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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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des Eingeständnisses, daß die Geschichte nicht mehr ist als der Rahmen, in den er stellt, was er, Jean Paul persönlich, der vorgibt, eins zu sein mit dem Romanschreiber, gerade zu sagen hat – Romane bestehend nicht nur aus Abschweifungen, sondern der Erklärung, aus Abschweifungen zu bestehen. Jean Paul selbst bestätigt mal mehr, mal weniger explizit immer wieder, daß er loswird, was er ohnehin loswerden werden wollte, aufgreift, was immer ihm gerade vor die Augen tritt, unabhängig von literarischer Form, Thema, Gattung, Höhe. Ein Beispiel: Er habe heute vorgehabt, beginnt Jean Paul in der Unsichtbaren Loge den sogenannten achtunddreißigsten oder Neujahr-Sektor, also das achtunddreißigste Kapitel, das er an Neujahr schreibt oder vorgibt, an Neujahr zu schreiben, er habe heute vorgehabt, einen Spaß zu machen und seine Biographie einen gedruckten Neujahrswunsch an den Leser zu nennen und statt der üblichen Neujahrs-Wünsche scherzhafte Neujahrs-Flüche zu tun und dergleichen mehr. Aber der Romanschreiber, der sich Jean Paul nennt, hat an diesem Neujahrstag zu schlechte Laune, um sich einen Spaß zu machen:
     
    Ich kann nicht und werd’ es überhaupt bald nicht gar nicht mehr können. Welches plumpe ausgebrannte Herz müssen die Menschen haben, welche im Angesichte des ersten Tages, der sie unter 364 andre gebückte, ernste, klagende und zerrinnende hineinführet, die tobende schreiende Freude der Tiere dem weichen stillen und ans Weinen grenzenden Vergnügen des Menschen vorzuziehen imstande sind! 21
     
    Man kann nicht über Jean Paul sprechen, ohne wenigstens kurz seine Sprache zu würdigen. So wenig wie in der Konstruktion seiner Romane existiert in Jean Pauls Sätzen ein Gleichmaß, nicht in der Tonstärke, nicht in der Satzlänge, nicht im Umfang der Wortgruppen, nicht im Tempo, nicht im Stil, nicht im Verhältnis der Satzteile oder Sätze zueinander. Weiter, als es dem menschlichen Körper entspräche, liegen die Tongipfel auseinander, so daß der Atem in dem reichgegliederten Satzbau unnatürlich weite Wege gehen muß und dadurch die dazwischen liegenden Nebensätze zusammendrängt, zu einem Trommelfeuer beschleunigt, in dem alles gleichzeitig gesagt zu werden scheint. Max Kommerell, der in den zwanziger Jahren wesentlich zur Wiederentdeckung Jean Pauls beitrug, machte gar Betonungen verschiedenen Rangs ausfindig, wobei die stärkeren, die schwächere Betonungen herabsetzend, Nebenliegendes überragend, einander zurufen würden. 22
    Mit Jean Paul folge ich einem Schriftsteller, dem es gelang, als erstem vielleicht, der Simultanität des Erlebens, die nur in ekstatischen Momenten sich auflöst, bis in die Sprachmelodie eine literarische Entsprechung zu geben, die das Gegenteil von Hölderlins Prosa ist, über die ich kommenden Dienstag sprechen werde. Wenn Hölderlins Prosa und seine früheren Gedichte auch sprachlich etwas Schwebendes, Gleitendes, Gleichmäßiges haben, überträgt Jean Paul – hier durchaus analog zum Hölderlin der Elegien und späten Hymnen, wie wir sehen werden, so Gott will – das Ungleichmäßige, Unüberschaubare der Wirklichkeit nicht nur als Handlungsgestrüpp, sondern bis in die Syntax, in die Stilbrüche und die genau kalkulierten Verletzungen der Grammatik dort, wo die deutsche Sprache nicht genügt. Bei dem Wort Traum etwa kommt er mit dem Simplex nicht aus, da wird auch vorgeträumt, nachgeträumt, erträumt und ausgeträumt. So weit treibt Jean Paul die Träume, daß in den Flegeljahren Walt zu träumen hofft, er sei der Traum der Geliebten – wie schön ist diese Vorstellung: zu träumen, daß ich ihr Traum bin.
    Daß bei Jean Paul zwei gegensätzliche Stilebenen ständig zueinander in Beziehung gesetzt werden, das Erhabene, Idealisierende und Verschrobene einerseits, das Niedrige, Nüchterne, Bodenständige andrerseits, hat Jean Paul selbst, aber auch viele Germanisten dazu gebracht, Romane wie die Flegeljahre in die Tradition des Don Quichotte und des humoristischen Romans zu stellen. Mir scheint, daß noch eine andere Linie von Jean Paul zu Cervantes führt. Don Quichotte steht ja nicht nur für den Ursprung des modernen Romans, sondern trägt zugleich die Züge älterer Erzählformen, des Epos und der Märchensammlung mit ihrer Rahmenhandlung. Der Anspruch an den Erzähler, daß jeder Abschnitt, jeder Gedanke an den davorliegenden anknüpfe, ist genausowenig zwingend wie die Erwartung an den Leser, daß er gleichzeitig nur eine Geschichte verfolge, eine
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