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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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gleichen sich Jean Pauls Romane der Struktur unserer Wirklichkeit an und übertreffen so in ihrem Kunstcharakter jeden Realismus – auch in der Entschlossenheit zum Alltäglichen, die der Anmaßung geschuldet ist, vom Vergänglichen nicht nur zu sprechen, sondern die Vergänglichkeit selbst nachzubilden. Nichts wird der Phantasie überlassen, jeder Nebenaspekt muß noch in seinen Nebenaspekten aufs genaueste geschildert, in den Flegeljahren noch die dritte und vierte Tischrede vollständig zitiert sein, so daß sie genau jene Langeweile erzeugen, jenes Weghören, Abschweifen der Gedanken, die sich bei Tischreden nun eben einstellen. Jemand findet einen Brief. Gut, denke ich, laß sehen, was darin steht, aber bis man es erfährt, wird erst einmal der Umschlag über anderthalb Seiten betrachtet. 15 Ein anderes Beispiel ist die sechste Klausel des Testaments, das Stimmen des Klaviers: Unmöglich daß Jean Paul sich ab dem zweiten oder dritten Klavier, das der Held stimmt, mit Andeutungen begnügt. Noch beim fünften, sechsten, siebten Klavier muß der Vorgang in all seinen musikalischen Tönen und Mißtönen beschrieben und juristisch bis hin zur Frage erörtert werden, wieviel Wert dem Zeugnis eines Juristen im Vergleich zum Zeugnis eines Laien zukommt. Von raffinierten Übergängen kann dabei keine Rede sein, eher geht es um Vollständigkeit: Hier passiert dies, indes passiert das, und das Dritte danach. Das Abseitige ermüdet, die Fußnoten, Zitate, Zwischengespräche, nebst dem Erhabenen das Banalste, Seitenhiebe, Schoten, dann eingestreut ganz ernste Sätze wie die über das Kind, das keinen Tod begreift,
     
    jede Minute seines spielenden Daseins stellt sich mit ihrem Flimmern vor sein kleines Grab 16
     
    und die Erwachsenen, die nicht weiter denken,
     
    es ist unbegreiflich, mit welcher Kälte tausend Menschen sagen können: das Leben ist zu kurz 17
     
    Gedanken zur Zeit, Spezialinteressen, literarische Einschätzungen – aber das ist in der Wirklichkeit so und wäre anders im Roman Lüge. Eben in dem Sinne, daß das Leben mitunter langweilt, langweilt Jean Paul, daß die Tage mal erfüllter, mal weniger erfüllt vergehen, vergehen die Kapitel bei Jean Paul, daß die eigenen Gedanken abschweifen und sich wieder konzentrieren, schweift Jean Paul ab und konzentriert sich meistens wieder. Bei ihm haben Satiren auf dieses oder jenes Geschehnis des Tages ebenso ihren Platz wie Sätze, neben die ich mir drei Kreuze mache, um sie mein restliches Leben nicht zu verlieren:
     
    Aber wir sind voll himmlischer Träume, die uns tränken – und wenn dann die Wonne oder die Erwartung der träumerischen Labung zu groß, dann werden wir etwas Besseres als satt – wach. 18
     
    Wie ein Reisender, der durch ein wundersames Land fährt, in das sonst kaum ein Tourist gelangt, jede Straßenkreuzung photographiert, würde ich wenigstens aus den kleineren Romanen, die nicht einmal dem Kindler einen Eintrag wert sind, am liebsten ganze Seiten zitieren. Diesen noch aus den Biographischen Belustigungen , weil er die Liebesnot erklärt, die ich eben meinte, und Martin Rentzsch vom Schauspiel Frankfurt so wunderbar Jean Paul spricht.
     
    Nein, zwischen zwei Seelen, die sich einander die Arme öffnen, liegt gar zu viel, so viele Jahre, so viele Menschen, zuweilen ein Sarg und allezeit zwei Körper. Hinter Nebeln erscheinen wir einander – rufen einander beim Namen – und eh’ wir uns finden, sind wir begraben. Und wenn man sich findet, ists denn der Mühe, des Namens der Liebe wert, die paar glühenden Worte, unsre kurzen Umarmungen? 19
     
    1794 ist das geschrieben, nicht 1974, im selben Jahrzehnt, in derselben Sprache, in derselben Generation, in denen noch Hyperions reine Liebe zu Diotima besungen wird. Zugegeben schlägt Jean Pauls Freiheit, alles sagen zu können häufig in alles sagen um, ins andere Extrem von Hölderlins Dringlichkeit. Wie immer bei Jean Paul lese ich regelmäßig über Seiten hinweg, um einen einzelnen Absatz wieder und wieder zu lesen. Aber auch das Leben selbst reiht keine Schicksalstage aneinander.
     
    Uns alle zieht eine Garnitur von faden flachen Tagen wie von Glasperlen ins Grab, die nur zuweilen eine orientalische wie ein Knoten abteilt. 20
     
    Die Geschichte scheint nur ein Rahmen zu sein, wie Gott die Woche, den Monat und das Jahr dem Menschen zum Rahmen gibt, damit sie ihrem Leben eine notdürftige Ordnung geben, ein Rahmen, in den Jean Paul stellt, was er gerade zu sagen hat, einschließlich
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