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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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auf Erden ein Zeichen Gottes sei. Als frommer Mensch mag man das leicht glauben. Aber wenn der Mensch sich einmal vor Augen hält, was es bedeutet, daß alles, wirklich alles auf Erden ein Zeichen Gottes sei, geriete seine Frömmigkeit schnell ins Wanken. Weder im Alten Testament noch im Koran gibt es einen Gedanken, der ketzerischer wäre als diesen, daß nichts auf Erden Abfall sei. Auch die Literatur sieht in allem ein Zeichen. Als begeisterter Leser mag man das leicht glauben. Aber wenn man sich einmal den Roman vor Augen hält, der alles, wirklich alles auf Erden erzählte, würde man nach einigen Seiten zuklappen oder sich vorher bereits den Rücken verheben.
    In den Zeitungen stand vor einiger Zeit, daß die Polizei mit Verweis auf die islamistische Bedrohung die Befugnis erhalten habe, über das Internet auf private Computer zuzugreifen, damit den Kernbezirk heutiger Privatheit zu durchspähen, in dem alle Datenströme zusammenlaufen, die Bankabrechnungen und Kreditkartennummern, sexuellen Vorlieben und Perversionen, Freizeitinteressen, Familienverhältnisse, Geschäftskorrespondenzen, Freundschaften, Liebschaften, Verrat. Jede Art von Text schränkt die Wirklichkeit ein, um sie zu konzentrieren, Reportagen, Essays, Erzählungen bis hin zur Novelle, davon leben Gedichte. Aber im Roman, mag er noch so ausgefeilt sein, wird die Einschränkung zur Lüge, indem er die Totalität will, die Gottes ist. Neunzig Jahre ununterbrochenen Schreibens genügten nicht annährend, um ein neunzigjähriges Leben zu beschreiben, weil jede Sekunde davon, und schon gar die Träume einen Roman enthalten. In diesem Sinne lese ich Sure 18, Vers 109: »Wäre das Meer Tinte für die Worte meines Herrn, eher ginge das Meer aus als die Worte meines Herrn, und nähmen wir noch ein zweites Meer zur Hilfe.« Natürlich ist es eine Utopie, in einem einzigen Text alles zu schreiben – er wäre unlesbar. Es geht darum, eine Form zu finden, die die Lebensfülle zwar nicht birgt, das wäre unmöglich, aber den Text zum Unendlichen hin öffnet. »Was liest ein Fahnder, der eine Online-Untersuchung vornimmt?« fragte Gustav Seibt in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung: »Er blättert im Existenzbuch des PC-Inhabers, verglichen mit dem sich ein Roman wie der Ulysses von James Joyce wie eine leichte Novelle ausnimmt. Ein solches Konvolut von Textsorten, Bildern, fremden und eigenen Verlautbarungen hat noch kein avantgardistischer Roman riskiert.« 24
    Wie jenes zeitgenössische Theater, das seinen Kunstcharakter durch Realelemente zerstören und eben dadurch retten will, tariert auch die avancierte Literatur von heute notwendig die Grenzen zwischen Roman und Wirklichkeit stets aufs neue aus, ohne sich mit der sogenannten Realität gleich zu stellen, etwa in John Coetzees Romanen, in denen der Protagonist ein berühmter Schriftsteller mit den Initialen J.C. ist oder gleich als John Coetzee auftritt. Ein Selbstportrait? In der Unsichtbaren Loge verneint das Jean Paul, der in seinen Romanen ebenfalls als Jean Paul auftritt, und könnte gerade damit die Unwahrheit gesagt haben:
     
    Im Grunde ist freilich kein Wort wahr, aber da andre Autoren ihre Romane gern für Lebensbeschreibungen ausgeben: so wird es mir verstattet sein, zuweilen meiner Lebensbeschreibung den Schein eines Romans anzustreichen. 25
     
    John Coetzees Roman Tagebuch eines schlechten Jahres , um kurz bei einem heutigen Roman zu bleiben, besteht aus kurzen Essays und zwei Erzählungen, die auf jeder Seite untereinander gedruckt sind. Durch einen einzigen Kniff, der Teilung des Satzbildes, ähnlich wie in mittelalterlichen Bibel- oder Korankommentaren in drei parallel verlaufende Texte, wird eine einfache, gerade heraus erzählte Geschichte zu einem Spiegelgebilde, das mehr Brechungen, Blickwinkel, Zufälligkeiten und Illusionen birgt als jeder Blog. Jean Paul beginnt Schmelzles Reise nach Flätz mit der Entschuldigung, daß der Setzer zwei verschiedene Manuskripte aus Versehen für zusammengehörig gehalten und untereinander gesetzt habe. Wie bei Coetzee sind sie durch eine Linie getrennt. Bei dem unteren Text sei allerdings die Reihenfolge der Abschnitte durcheinander geraten, so daß die Zufälligkeit, mit der sich zwischen den beiden Manuskripten ein Zusammenhang gibt, ein weiteres Mal potenziert wäre. Seit zwanzig Jahren habe Jean Paul gesonnen, wie er eine Geschichte und ihre Abschweifungen so anordnet, daß sie eins werden, nun sei es ihm durch die Unachtsamkeit des
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