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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Dünndruckausgabe von Jean Paul exakt die Höhe eines Malertischbocks hat. Als das Regal schon angebracht und der Student schon fort ist, holt der Romanschreiber die fünf anderen Bände von Jean Pauls Dünndruckausgabe aus dem Karton. Dabei sticht ihm ein Titel auf dem letzten Band ins Auge, so daß er unweigerlich darin zu blättern beginnt: Selberlebensbeschreibung . Nicht noch ein Hölderlin, stöhnt der Romanschreiber nach ein paar Absätzen und stellt das Buch ins Regal.
    In der Wirklichkeit hätte Jean Paul im Regal bleiben können, bis ich aus dem Büro wieder ausziehe. In dem Roman, den ich schreibe, ist Jean Paul damit aufgetreten und muß er noch eine Bedeutung erhalten. In der Vorschule zur Ästhetik , die der Romanschreiber und ich erst zur Vorbereitung auf die Frankfurter Poetikvorlesung lasen, schreibt Jean Paul in Paragraph 74, »Regeln und Winke für den Romanschreiber«:
     
    Wenn schon das Interesse einer Untersuchung auf einem fortwechselnden Knötchen-Knüpfen und – Lösen beruht – wie daher Lessings Untersuchungen durch das Geheimnis dieses Zaubers festhalten –: so darf sich noch weniger im Roman irgendeine Gegenwart ohne Kerne und Knospen der Zukunft zeigen. Jede Entwicklung muß eine höhere Verwicklung sein. – Zum festern Schürzen des Knotens mögen so viele neue Personen und Maschinengötter, als wollen, herbeilaufen und Hand anlegen; aber die Auflösung kann nur alten einheimischen anvertraut werden. 2
     
    Weitere Seiten der zweiten Fassung später – von den Daten und Uhrzeiten will ich fortan absehen – geht der Romanschreiber mit seiner zweiten Tochter, die einige Zeit nach der Lieferung der Schreibtischplatte auf der Schreibtischplatte gezeugt und kurz nach der Anbringung der neuen Regale drei Monate zu früh geboren wurde, in die Stadt, um Besorgungen zu machen, und entdeckt im Schaufenster eines Möbelgeschäftes Designer-Tischbeine, die zu siebzig Prozent reduziert sind. Da der Kinderwagen eine Möglichkeit bietet, den Einkauf zu transportieren, kauft er die Tischbeine, die nach Aussage des Verkäufers kinderleicht anzuschrauben sei, so daß der Romanschreiber diesmal nicht den Studenten rufen wird. Als er im Büro, das doch keine Wohnung geworden ist, die Tischplatte des alten Schreiners allein hochhebt, holt er sich, nein, keinen Hexenschuß, sondern kommt auf dem Bürocontainer der erste Band von Jean Pauls Dünndruckausgabe zum Vorschein, der die Höhendifferenz zum Malertischbock ausglich. Wie zur Buße für die unwürdige Behandlung eines berühmten Dichters, der das Gewicht zwar nicht der ganzen, aber doch seiner Welt in Gestalt des Computers, der gerade gelesenen Bücher und bei einer Gelegenheit seine Frau tragen mußte wie die ärmsten Engel den Thron Gottes, zugleich aus Vernunftgründen der Art, daß man Jean Paul doch kennen müsse, fängt der Romanschreiber diesmal auf Seite eins an zu lesen, während die Tischplatte des Schreiners noch auf dem Teppich liegt, und wird bald so süchtig, daß er zwei Wochen später bereits den dritten Band der Dünndruckausgabe erreicht und drei Jahre später die Frankfurter Poetikvorlesung über Jean Paul hält. Daß das Anschrauben der Tischbeine, zumal der Verkäufer es mit der Perfidie Gottes als kinderleicht annoncierte, dem Romanschreiber zwischenzeitlich den Verstand raubt, versteht sich in dem Roman, den ich schreibe, von selbst.
    War das wirklich so? Nein, das scheint jedenfalls in der Kürze doch arg konstruiert. Nicht nur Theodor W. Adorno, auch der Prophet Mohammed hat, wenngleich in simpleren Worten, etwas gegen eine Poetik vorgebracht, die allzu blind dem folgt, was sich von selbst ergibt. Der Prophet also sagte: Vertraue auf Gott, aber binde dein Kamel an. Die Designer-Tischfüße waren wirklich zu siebzig Prozent reduziert, aber unter der Schreibtischplatte des alten Schreiners lag James Joyces Finnegans Wake , das angesichts der Anlage des Romans zu nahe lag, um als Zufall zu bestehen, und vor allem nicht der deutschen Literatur angehört, deren Aneignung mir sinnreicher schien für den Enkel, der das Leben seines iranischen Großvaters schließlich in deutscher Sprache erzählt, so daß ich mich noch unwissender stellte, als ich war, und Joyce durch Jean Paul als Stütze für die Schreibtischplatte des alten Schreiners ersetzte, den es nun wirklich gab, geben mußte, da er inzwischen tot ist. Wirklich sind in dem Roman, den ich schreibe, nur die Toten, alle andere »nur« ideal, die Anführungszeichen
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