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Twig im Dunkelwald

Twig im Dunkelwald

Titel: Twig im Dunkelwald
Autoren: Paul Stewart
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er.
    Spelda kicherte. Dabei gingen ihre mit Flaum bedeckten Wangen auseinander und ihre kleinen, kohlschwarzen Augen verschwanden in ledrigen Hautfalten. »Für mich nicht«, sagte sie. Sie beugte sich vor und schlang ihre langen Arme um Twigs Brust. »Du bist und bleibst mein Allerschönster.« Sie hielt inne. »Wo war ich stehen geblieben?«
    »Bei der Namensgebung«, sagte Twig.
    Er hatte die Geschichte schon so oft gehört, dass er nicht mehr auseinander halten konnte, an was er sich selbst noch erinnerte und was ihm erzählt worden war. Spelda war bei Sonnenaufgang auf dem ausgetretenen Weg zum Ankerbaum marschiert, hatte sich an den dicken Stamm angebunden und war dann mit dem anderen Ende der Leine in der Hand in den dunklen Wald aufgebrochen. Ein gefährliches Unternehmen nicht nur wegen der unsichtbaren Gefahren, die im Dunkelwald lauerten, sondern auch, weil immer die Möglichkeit bestand, dass das Seil sich irgendwo verfing und riss. Es gab für einen Waldtroll nichts Schlimmeres, als sich zu verirren.

    Wer vom Weg abkam und sich verirrte, war den Angriffen des Schleimschmeichlers ausgeliefert – des schrecklichsten aller Ungeheuer des Dunkelwalds. Die Waldtrolle lebten in ständiger Angst diesem Monstrum zu begegnen. Spelda hatte ihren älteren Kindern oft mit Geschichten vom schwarzen Mann im Wald Angst gemacht. »Wenn du nicht aufhörst ein so ungezogener Waldtroll zu sein«, pflegte sie zu sagen, »dann holt dich der Schleimschmeichler!«
    Immer tiefer war Spelda in den Dunkelwald eingedrungen. Das Geheul und Gekreische unsichtbarer Tiere gellte durch die Bäume. Sie tastete nach den Amuletten und Talismanen, die sie um den Hals trug, und betete für eine rasche und sichere Rückkehr.
    Am Ende der Leine angekommen, zog Spelda ein Messer – ein Namensgebungsmesser – aus dem Gürtel. Das Messer war wichtig. Es war speziell für ihren Sohn angefertigt worden, so wie für alle Waldtrollkinder Messer gemacht wurden. Sie waren ein wichtiger Bestandteil des Namensrituals und wenn die Kinder dann erwachsen waren, bekamen sie ihr Namensgebungsmesser ausgehändigt.
    Spelda packte das Messer fest, streckte den Arm aus und säbelte, wie das Ritual es vorschrieb, ein Stück Holz aus dem nächsten Baum. Dieser kleine Schnitzel aus dem Dunkelwald sollte den Namen ihres Kindes enthüllen.

    Spelda verlor keine Zeit. Sie wusste ganz genau, dass sie mit ihrem Sägen und Hacken andere Waldbewohner auf sich aufmerksam machte, die womöglich eine tödliche Gefahr darstellten. Sobald sie fertig war, klemmte sie sich das Holzstückchen unter den Arm und marschierte durch den Wald wieder zum Ankerbaum. Sie band sich los und kehrte nach Hause zurück. Dort küsste sie das Stück zweimal und warf es dann ins Feuer.
    »Bei deinen Geschwistern kamen die Namen sofort«, sagte sie. »Schnutpill, Handlang, Nasevoll, in aller Deutlichkeit. Bei dir zischte und knackte das Holz, aber sonst kam nichts. Der Dunkelwald weigerte sich, dir einen Namen zu geben.«
    »Trotzdem habe ich einen«, sagte Twig.
    »So ist es«, sagte Spelda. »Dank Taghair.«
    Twig nickte. Er erinnerte sich noch gut daran. Taghair war gerade nach längerer Abwesenheit ins Dorf zurückgekehrt. Twig wusste noch, wie froh die Waldtrolle darüber gewesen waren. Taghair, in allen waldkundlichen Dingen wohl bewandert, war ihr Beistand, Berater und Orakel. Zu ihm gingen sie mit all ihren Sorgen.
    »Als wir zu seinem Wiegenliedbaum kamen, hatte sich darunter bereits eine ansehnliche Menge versammelt«, sagte Spelda. »Taghair saß in seinem leeren Raupenvogelkokon und berichtete, wo er gewesen war und was er auf seinen Reisen erlebt hatte. Als er mich sah, riss er die Augen auf und ließ die Ohren kreisen. ›Was ist passiert?‹, fragte er. Ich sagte es ihm. Ich sagte ihm alles. ›Du meine Güte‹, erwiderte er. ›Reiß dich zusammen.‹ Dann zeigte er auf dich. ›Sag mir doch, was ist das um den Hals des Kleinen?‹ ›Sein Kuscheltuch‹, sagte ich. ›Niemand darf es anfassen und er hat es immer an. Sein Vater hat einmal versucht es ihm wegzunehmen, er meinte, der Junge sei zu alt für derlei Kindereien. Aber der Junge rollte sich nur zusammen und weinte so lange, bis wir es ihm zurückgaben.«
    Twig wusste, was als Nächstes kam. Er hatte es schon viele Male gehört.
    »Dann sagte Taghair: ›Gib mir das Tuch.‹ Er sah dich dabei eindringlich mit seinen großen, schwarzen Augen an – Augen, wie alle Eichenelfen sie haben. Mit ihnen sehen sie Dinge auf der
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