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Tschoklet

Titel: Tschoklet
Autoren: Harald Pflug
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Kameraden hatten auch erzählt, dass sie seit dem Tag nicht mehr schlafen konnten, nachdem sie das KZ geräumt hatten. Einige wären mit Nervenzusammenbruch ins Feldhospital eingeliefert worden oder konnten tagelang nichts anderes als weinen. »Diese Bilder brennen sich in dein Gehirn, bis du selbst in die Kiste springst!« Hucky fürchtete sich davor, solch ein Lager befreien zu müssen.
    Er hätte sich damals nicht freiwillig melden sollen, aber sein Vater wollte es so. Er wollte, dass beide Söhne Karriere bei der Army machten. Er wäre viel lieber Buchhalter in der neuen Fabrik für Kunststoffe in Allentown geworden, die einige Monate zuvor ihre Tore geöffnet hatte und ihn gerne genommen hätte. Hucky glaubte an die Zukunft von Kunststoffen, die man aus Erdöl herstellen konnte. Das flüssige Gold aus Texas, welches man nur aus dem Boden zu pumpen brauchte und mit dem man durch Raffinieren und weitere chemische Verfahren alles Mögliche anstellen konnte. Wäre nicht die verdammte Army dazwischengekommen.
    Gordon Huckleby hasste es immer, dass sein älterer Bruder Samuel bei der Militärpolizei gemustert und gleich genommen wurde, bloß weil er bös gucken konnte. Sammy war schon immer größer und kräftiger, nur die lockigen braunen Haare und die Knubbelnase des Vaters ließen die Verwandtschaft erkennen.
    Als Achtjähriger musste Hucky ein Jahr mit einer Zahnspange zur Schule gehen, ein älterer Mitschüler meinte mal, er solle sich von dem neuartigen Magnetbagger auf dem Schrottplatz fernhalten, denn der würde jetzt seine Zähne im Mund anziehen. Also machte Hucky von diesem Tag an zur Schule einen großen Bogen um das eingezäunte Autolager. Er konnte auch bös dreinschauen, meist aber nur, wenn er sich gerade in den Finger geschnitten hatte oder zu Hause mit dem Kopf gegen das zu niedrige Dach des Hühnerschuppens gerannt war. In der Schule wurde er immer ›Huckleberry‹ gerufen, anfangs war das ärgerlich, später hatte er sich mit seinen Kameraden arrangiert und man einigte sich auf ›Hucky‹.
    Captain Edwards durfte ihn vom ersten Tag an ›Hucky‹ nennen, dafür wurde er von diesem meist bevorzugt behandelt. Er mochte Edwards eigentlich gerne als Freund haben, denn dieser respektierte ihn als Mensch und sah ihn nicht als Witzfigur wie all die anderen Privates. Der Captain war selbst nicht besonders groß, obwohl muskulös und drahtig. In seinem wettergegerbten Gesicht sah man die Kiefermuskeln unterhalb der Augenpartie ständig in Bewegung. Das hatte er schon mal bei einer wiederkäuenden Kuh gesehen. Huckleby schätzte besonders seine Menschlichkeit, sein großes Allgemeinwissen und den trockenen Humor. Irgendwie sah Edwards immer aus, als täten ihm die Befehle anschließend leid, denn er blinzelte danach mit den Augen, als würde ihn die Sonne blenden. Wenn Edwards sich über andere Soldaten aufregte, fühlte er sich wie von einem Kindergarten umgeben. Diesen Spruch hatte Hucky schon Hunderte Male gehört, fand ihn aber immer wieder amüsant. Auf jeden Fall waren sie sich von Anfang an sympathisch. Preston, Jonas, Boone und Piece waren zwar erfahrener, galten jedoch bei Edwards als Drückeberger. Der Offizier hatte das bei einem Vieraugengespräch mit Corporal Roebuck erwähnt. Hucky war zufällig Zeuge der kurzen Unterhaltung geworden, behielt das Gehörte aber lieber für sich. Manchmal war es ganz gut, nicht alles wieder auszuplaudern.
    Die Army brachte mitunter seltsame Grüppchen zum Vorschein: Preston, Jonas und Boone, die ›drei Unzertrennlichen‹, wie sie Sergeant Vickers abwertend betitelte. Der kleine, dürre Jonas, eher der nachdenkliche Typ, man musste stets Angst haben, dass er vom Wind weggeweht werden könnte, und dann der große, dicke Boone, nicht brutal, sondern unterwürfig, fast devot zu den Vorgesetzten, selten ein böses Wort. Boone konnte sich wie kein anderer an Edwards anschleimen, Vickers nannte ihn nur den ›Arschkriecher‹. Und der unauffällige, extrem gläubige Private Eugene Preston, ein Sprachgenie vor dem Herrn. Der Dolmetscher für ganz Europa. Seine reichen Eltern hatten ihn sehr früh in ein privates Eliteinternat nach England geschickt, wo er fließend niederländisch, französisch und russisch lernte, was ihn wiederum für die Scouts wertvoll und unverzichtbar machte. Allen voran für Jonas und Boone beim Pokerspiel. Unzertrennlich eben.
    Gestern Abend waren noch drei zerlumpte Kinder aus dem nahen Seckenheim im Lager gewesen. Die zwei Knaben und das
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