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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition)
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Berlin. Sonntag den 29. um 17 Uhr unter der Weltzeituhr, wenn du nicht noch fünfzig Jahre warten willst. Kuss – Isa.
     
    Von unten waren Geräusche zu hören. Es gab einen Schrei, es krachte und rumpelte. Lange hörte ich nicht hin, weil ich dachte, meine Eltern streiten wieder, und ich drehte mich mit dem Brief auf den Rücken. Dann fiel mir aber ein, dass mein Vater gar nicht da war, weil er heute mit Mona zusammen eine neue Wohnung anguckte.
    Ich hörte noch mehr Krach und sah aus dem Fenster. Im Garten war niemand zu sehen, aber in unserem Pool trieb kieloben ein Sessel. Irgendwas Kleineres spritzte daneben ins Wasser und versank. Sah aus wie ein Handy. Ich ging nach unten.
    Da stand meine Mutter auf der Schwelle der Terrassentür und hatte schon wieder Schluckauf. In der einen Hand hielt sie eine eingetopfte Primel, wie man Leute an den Haaren hält, und in der andern Hand ein Whiskyglas.
    «So geht das schon wieder seit einer Stunde», sagte sie verzweifelt. «Dieser Scheißschluckauf geht einfach nicht weg.» Sie stellte sich auf Zehenspitzen und warf die Primel in den Pool.
    «Was machst du denn da?», fragte ich.
    «Wonach sieht’s denn aus?», sagte sie. «Ich hänge nicht an dem Scheiß. Außerdem muss ich bescheuert gewesen sein – guck dir mal das Muster an.»
    Sie hielt ein rotgrün kariertes Sitzkissen hoch und warf es über die Schulter in den Pool.
    «Merk dir eins im Leben! Hab ich mit dir eigentlich schon mal über grundsätzliche Fragen gesprochen? Und ich meine nicht den Mist mit dem Auto oder was. Ich meine wirklich grundsätzliche Fragen.»
    Ich zuckte die Schultern.
    Sie zeigte einmal rundum. «Das ist alles egal. Was nicht egal ist: Bist du glücklich damit? Das. Und nur das.» Kurze Pause. «Bist du eigentlich verliebt?»
    Ich dachte nach.
    «Also ja», sagte meine Mutter. «Vergiss den anderen Scheiß.»
    Sie hatte die ganze Zeit angepisst ausgesehen, und sie sah auch jetzt noch angepisst aus, aber auch ein wenig überrascht. «Du bist also verliebt, ja? Und ist das Mädchen – sie auch in dich?»
    Ich schüttelte den Kopf (für Tatjana) und zuckte die Schultern (für Isa).
    Meine Mutter wurde sehr ernst, schenkte sich noch ein Glas ein und warf auch die leere Whiskyflasche in den Pool. Dann umarmte sie mich. Sie riss die Kabel vom DVD-Spieler raus und schleuderte ihn ins Wasser. Es folgten die Fernbedienung und der große Kübel mit der Fuchsie. Eine riesige Fontäne spritzte über dem Kübel hoch, dunkle Sandwolken stiegen an der Einschlagsstelle auf, und rote Blütenblätter schwammen auf den Wellen.
    «Ach, ist das herrlich», sagte meine Mutter und weinte. Dann fragte sie mich, ob ich auch was trinken will, und ich sagte, dass ich wahrscheinlich lieber auch irgendwas in den Pool werfen würde.
    «Hilf mir mal.» Sie ging zur Couch. Wir schleppten die Couch zum Beckenrand. Sie machte eine Eskimorolle und dümpelte dann mit den Füßen nach oben knapp unter der Wasseroberfläche. Meine Mutter kippte den runden Tisch in die Senkrechte und ließ ihn in einem großen Halbkreis über die Terrasse rollen. Er fiel ganz hinten ins Wasser. Als Nächstes nahm sie die Chinalampe auseinander, setzte sich den Schirm auf den Kopf und beförderte den Lampenfuß wie ein Kugelstoßer in den Pool. Fernseher, CD-Ständer, Beistelltischchen.
    Meine Mutter knallte gerade einen Champagnerkorken über die Terrasse und hielt sich die sprudelnde Flasche an den Mund, als der erste Polizist um die Ecke kam. Er zuckte zusammen, entspannte sich aber sofort, als meine Mutter den Lampenschirm abnahm und damit grüßte wie d’Artagnan mit seinem Federhut. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Ich stand am Beckenrand, den großen Couchsessel auf den Armen.
    «Die Nachbarn haben uns informiert», sagte der Polizist.
    «Diese Scheiß-Stasi-Kacker», sagte meine Mutter und setzte den Lampenschirm wieder auf.
    «Wohnen Sie hier?», fragte der Polizist.
    «Allerdings», sagte meine Mutter. «Und Sie befinden sich auf unserem Grundstück.» Sie ging ins Wohnzimmer und kam mit dem Ölgemälde wieder raus.
    Der Polizist sagte irgendwas von Nachbarn, Ruhestörung und Verdacht auf Vandalismus, und währenddessen hob meine Mutter den Ölschinken mit beiden Händen über den Kopf und segelte damit wie ein Drachenflieger in den Pool. Das konnte sie noch immer so gut wie früher. Sie sah toll dabei aus. Sie sah aus wie jemand, der wirklich nichts lieber macht auf der Welt, als unter einem Ölschinken in einen
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