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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition)
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Briefe bekam man da.

46
    Und dann war Gerichtsverhandlung. Ich war logisch tödlich aufgeregt. Allein die Räume im Gericht waren der reine Terror. Riesige Treppenhäuser, Säulen, Statuen an den Wänden wie in einer Kirche. Das sieht man bei Richterin Barbara Salesch auch nicht, dass man erst mal stundenlang wo warten muss, wo man denkt, man ist auf seiner eigenen Beerdigung. Und genau das dachte ich, während ich da wartete, und ich dachte auch, dass ich in meinem Leben nie wieder ein Kaugummi klauen würde.
    Als ich in den Gerichtssaal reinkam, saß der Richter schon hinter seiner Theke und zeigte mir, wo ich Platz nehmen sollte, an einem Tischchen fast wie in der Schule. Der Richter hatte einen schwarzen Poncho an, und rechts von ihm saß eine Frau und surfte die ganze Zeit im Internet, jedenfalls sah sie so aus. Ab und zu tippte sie ein bisschen, aber sie guckte eine Stunde lang nicht vom Computer auf. Und ganz links saß noch einer im schwarzen Poncho. Wie sich dann rausstellte, der Staatsanwalt. Die schwarze Kleidung scheint ein wichtiger Bestandteil vom Gericht zu sein. Auch draußen liefen lauter Schwarzgekleidete rum, und ich musste an die weißen Kittel im Krankenhaus denken und an Pflegeschwester Hanna, und ich war froh, dass man unter dem Schwarz wenigstens keine Unterwäsche sehen konnte.
    Tschick war noch nicht da, kam dann aber eine Minute später in Begleitung von einem Mann vom Jugendheim. Wir fielen uns in die Arme, und keiner hatte was dagegen. Viel Zeit zum Unterhalten hatten wir allerdings nicht. Der Richter legte gleich los, ich musste meinen Namen sagen und wo ich wohne und das alles, und Tschick genauso, und dann stellte der Richter nochmal die ganzen Fragen, die die Polizisten auch schon gestellt hatten. Warum, weiß ich nicht, denn er kannte unsere Antworten ja schon aus den Akten, und am «Tatverlauf», wie der Richter das nannte, gab es dann auch keine riesigen Zweifel mehr. Ich erzählte einfach immer mehr oder weniger die Wahrheit, so wie ich sie ja auch schon auf der Polizei erzählt hatte – na ja –, von ein paar winzigen Details abgesehen. Dass wir im Krankenhaus den Namen von André Langin angegeben hatten und so einen Quatsch. Das konnte man aber auch gut unter den Tisch fallenlassen, das interessierte sowieso keinen. Was den Richter hauptsächlich interessierte, war, wann wir zum ersten Mal das Auto genommen hatten, wo wir damit überall langgefahren waren und warum wir das gemacht hatten. Das war die einzig schwierige Frage: Warum? Da hatten die Polizisten auch schon immer nachgehakt, und das wollte der Richter jetzt auch nochmal ganz genau wissen, und da wusste ich wirklich nicht, was ich antworten sollte. Zum Glück hat er uns dann gleich selbst so Antworten angeboten. Zum Beispiel, ob wir einfach Fun hätten haben wollen. Fun. Na ja, schön, Fun, das schien mir selbst auch das Wahrscheinlichste, obwohl ich das so nicht formuliert hätte. Aber ich hätte ja auch schlecht sagen können, was ich in der Walachei gewollt hatte. Ich wusste es nicht. Und ich war mir nicht sicher, ob sich der Richter stattdessen für meine Geschichte mit Tatjana Cosic interessieren würde. Dass ich diese Zeichnung für sie gemacht hatte und dass ich eine Riesenangst hatte, der größte Langweiler unter der Sonne zu sein, und dass ich einmal im Leben wenigstens kein Feigling sein wollte, und deshalb sagte ich, dass das mit dem Fun schon irgendwie richtig wäre.
    Wobei mir einfällt, dass ich in einem Punkt dann doch gelogen hab. Und das war das mit der Sprachtherapeutin. Ich wollte nicht, dass die Sprachtherapeutin wegen uns Schwierigkeiten bekommt, weil sie so wahnsinnig nett gewesen war, und deshalb habe ich sie und ihren Feuerlöscher einfach nie erwähnt. Ich hab dem Richter nur erzählt, was ich auf der Polizei schon erzählt hatte, dass sich nämlich Tschick den Fuß gebrochen hat, als der Lada sich am Steilhang ungefähr fünfmal überschlagen hat, und dass wir danach über das Feld geradewegs ins Krankenhaus gehumpelt sind und keine Sprachtherapeutin und nix.
    Eigentlich eine ganz okaye Lüge, aber schon während ich sie dem Autobahnpolizisten zum ersten Mal auftischte, fiel mir ein, dass sie auffliegen würde. Weil Tschick den Polizisten natürlich ganz was anderes erzählen würde, wenn sie ihn fragten. Und sie würden ihn fragen. Rausgekommen ist das Ganze dann lustigerweise nicht, weil Tschick nämlich genau das Gleiche gedacht hat, dass er die Sprachtherapeutin da nicht reinreißen
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