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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition)
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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gehabt.
    Wagenbach holte die Lesebrille raus und las: «Maik – Tatjana. Tatjana – Maik.» Er sah zuerst Tatjana an und dann mich.
    «Ich schätze eure rege Beteiligung am Unterricht. Aber wenn ihr Verständnisfragen zur Bismarck’schen Außenpolitik habt, könnt ihr euch doch einfach melden», sagte er. «Ihr müsst eure Fragen nicht auf winzige Zettel schreiben, in der Hoffnung, dass ich sie zufällig finde.»
    Diesen Witz machte er nicht zum ersten Mal. Er machte diesen Witz jedes Mal. Der Klasse war es egal. Sie fanden dieses Affentheater immer wahnsinnig toll.
    Und man durfte sich keine Hoffnungen machen, dass es damit zu Ende war. Es gab Lehrer, die zerrissen Zettel einfach nur, es gab welche, die warfen sie in den Mülleimer oder steckten sie ein, aber es gab auch Wagenbach. Und Wagenbach war ein Arschloch. Er war der einzige Lehrer an der ganzen Schule, der imstande war, aus konfiszierten Handys den kompletten SMS-Speicher vorzulesen. Da änderte es nichts, wenn man bettelte oder heulte, Wagenbach las alles vor.
    Er faltete feierlich den Zettel auseinander, und ich hoffte, es würde irgendein Wunder geschehen und ein Meteorit vom Himmel fallen, der Wagenbach den Arsch spaltete. Oder dass es wenigstens zur Pause klingelte, das hätte gereicht. Aber natürlich klingelte es nicht, und natürlich fiel auch kein Meteorit vom Himmel. Wagenbach ließ seinen Blick einmal über die Klasse schweifen und stellte sich in Positur. Ich glaube, er wäre wahnsinnig gern Schauspieler geworden oder Kabarettist. Aber es hatte nur zum Arschloch gereicht. Und ich meine – wenn es einfach irgendein Zettel gewesen wäre mit irgendeinem Quark drauf. Aber es waren die ersten ernstgemeinten Worte in meinem Leben, die ich mit Tatjana wechselte – und vielleicht auch die letzten –, und Wagenbach hatte kein Recht der Welt, sie vorzulesen.
    «Da schreibt also das Fräulein Cosic», sagte Wagenbach und zeigte mit dem Kinn in Richtung Tatjana, als wäre sie uns allen nicht bekannt, «unsere bezaubernde Nachwuchsliteratin Fräulein Cosic schreibt: Mein Gott! » Die letzten beiden Worte in einem mäuschenhaften Piepsen.
    Ein Riesenknaller. Gelacht wurde bei Wagenbach ja sonst nicht, aber wenn er selbst die Witze machte, dann schon. Auch wenn es rein beknackte Witze waren. Dass er zum Beispiel «Nachwuchsliteratin» sagte, war so einer von diesen beknackten Witzen.
    «Mein Gott!», piepste Wagenbach weiter. «Was ist denn mit dir passiert?»
    «Arsch», sagte ich halblaut, es ging im Jubel unter. Tatjana starrte auf die Tischplatte vor sich. Und da starrte sie noch die ganze Zeit hin. Wagenbach drehte sich zu mir um.
    «Und was antwortet der Herr Klingenberg?»
    Er senkte das Kinn auf die Brust und sagte mit einer Stimme wie ein geistig behinderter Zeichentrickbär: «Och, nöchts Bösondörös.»
    Die Klasse brüllte. Selbst Olaf, der alles verbockt hatte durch seine Blödheit, fing an mitzulachen. Das war kaum auszuhalten.
    «Ein geschliffener Dialog», sagte Wagenbach. «Doch wird das wissbegierige Fräulein Cosic sich mit dieser Antwort zufriedengeben? Oder verlangt es sie nach mehr?»
    Mäuschenhaftes Piepsen: «Jetzt sag schon! Es interessiert mich wirklich.»
    Geistig behinderter Zeichentrickbär: «Olso. Dös wor so.»
    Wagenbach kniff die Augen hinter der Lesebrille zusammen, als könnte er selbst nicht fassen, was jetzt kam. Tatjana hob leicht den Kopf, weil sie meine Antwort ja auch noch nicht kannte, und ich sah aus dem Fenster und überlegte, was Tschick jetzt gemacht hätte an meiner Stelle. Ein ausdrucksloses Gesicht vermutlich. Er konnte das aber auch besser als ich.
    Wagenbach war in seiner Bärennummer mittlerweile so drin, dass er erst gar nicht mitkriegte, was er da vorlas. «Tschöck ond öch sönt möt döm Auto höromgöfohrön. Oigöntlöch wolltön wör ön dö Wolochai, obor donn hobön wör ons fönf Mol öborschlogön, nochdöm einör auf ons geschossön hottö.» Wagenbach stutzte und fuhr mit normaler Stimme fort: «Dann Verfolgungsjagd mit der Polizei, Krankenhaus. Ich bin später noch in einen Laster gekracht mit lauter Schweinen drin, und mir hat’s die Wade zerrissen, aber na ja – alles nicht so schlimm.»
    Einige lachten immer noch. Hauptsächlich die drei Leute, die nicht auf Tatjanas Party gewesen waren. Die, die Tschick und mich mit dem Lada gesehen hatten, waren mehr oder weniger verstummt.
    «Sieh mal an», sagte Wagenbach. «Der saubere Herr Klingenberg! Unfälle, Verfolgungsjagden,
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