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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition)
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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will, und weil das eine so naheliegende Lüge war, das stellte sich jetzt im Gerichtssaal raus, war Tschick bei seiner Vernehmung auch auf genau die gleiche Lösung gekommen wie ich: Fuß beim Überschlag gebrochen, dann übers Feld ins Krankenhaus gehumpelt – und keinem ist aufgefallen, dass da ein logischer Fehler war. Weil, wenn man irgendwo in der Pampa, wo man noch nie war, einen Unfall baut und ringsum nur Felder und am Horizont ein paar Bäume und einzelne Gebäude – woher hätten wir ahnen sollen, dass dieses große weiße Ding, auf das wir da angeblich zielstrebig zugehumpelt sind, ein Krankenhaus ist?
    Aber, wie gesagt, der Richter interessierte sich sowieso mehr für andere Dinge.
    «Was mich mal interessieren würde, wer von euch beiden genau hat die Idee zu dieser Reise gehabt?» Die Frage ging an mich.
    «Na, der Russe, wer sonst!», kam es halblaut von hinten. Mein Vater, der Idiot.
    «Die Frage geht an den Angeklagten!», sagte der Richter. «Wenn ich Ihre Meinung wissen wollte, würde ich Sie fragen.»
    « Wir hatten die Idee», sagte ich. «Wir beide.»
    «Quatsch!», meldete sich Tschick zu Wort.
    «Wir wollten einfach ein bisschen rumfahren», sagte ich, «Urlaub wie normale Leute und –»
    «Quatsch», meldete Tschick sich wieder.
    «Du bist nicht dran», sagte der Richter. «Warte, bis ich zu dir komme.»
    Da war er ganz eisern, dieser Richter. Reden durfte immer nur, wer dran war. Und als Tschick dran war, erklärte er sofort, dass das mit der Walachei seine Idee gewesen wäre und dass er mich geradezu ins Auto hätte zerren müssen. Er erzählte, woher er wüsste, wie man Autos kurzschließt, während ich keine Ahnung hätte und das Gaspedal nicht von der Bremse unterscheiden könnte. Er erzählte völligen Quatsch, und ich sagte dem Richter, dass das völliger Quatsch ist, und da sagte der Richter jetzt zu mir, dass ich nicht dran wäre, und im Hintergrund stöhnte mein Vater.
    Und als wir schließlich genug über das Auto geredet hatten, kam der schlimmste Teil, und es wurde über uns geredet. Nämlich der Typ vom Jugendheim erklärte ausführlich, aus was für Verhältnissen Tschick kommen würde, und er redete über Tschick, als wäre der gar nicht anwesend, und sagte, dass seine Familie so eine Art asozialer Scheiße wäre, auch wenn er andere Worte dafür gebrauchte. Und dann erklärte der Typ von der Jugendgerichtshilfe, der mich und meine Eltern zu Hause besucht hatte, aus was für einem stinkreichen Elternhaus ich kommen würde und dass ich dort vernachlässigt würde und verwahrlost sei und meine Familie letztlich auch so eine Art asozialer Scheiße, und als das Urteil verkündet wurde, war ich überrascht, dass sie mich nicht lebenslänglich einsperrten. Im Gegenteil, milder konnte ein Urteil gar nicht ausfallen. Tschick musste im Heim bleiben, wo er eh schon war, und an mich erging die Weisung, Arbeitsleistungen zu erbringen . Im Ernst, das hat der Richter gesagt. Er hat dann zum Glück auch gleich erklärt, was er damit meinte, und in meinem Fall meinte er, dass ich dreißig Stunden lang Mongos den Arsch abwischen soll. Zum Schluss kamen noch stundenlange moralische Ermahnungen, aber es waren eigentlich sehr okaye Ermahnungen. Nicht wie bei meinem Vater oder an der Schule immer, sondern schon eher so Sachen, wo man dachte, es geht am Ende um Leben und Tod, und ich hörte mir das sehr genau an, weil mir schien, dass dieser Richter nicht gerade endbescheuert war. Im Gegenteil. Der schien ziemlich vernünftig. Und der hieß Burgmüller, falls es jemanden interessiert.

47
    Und das war dann dieser Sommer. Die Schule fing wieder an. Statt 8c stand jetzt 9c an der Tür von unserem Klassenraum. Sonst hatte sich nicht viel verändert. Es war noch die gleiche Sitzordnung wie in der Achten. Jeder saß da, wo er vorher gesessen hatte, außer dass am Tisch ganz hinten keiner mehr saß. Kein Tschick.
    Erste Stunde am ersten Tag nach den Sommerferien: Wagenbach. Ich war eine Minute zu spät, kriegte aber ausnahmsweise keinen Anschiss. Ich humpelte noch ein bisschen und hatte Schrammen im Gesicht und überall. Wagenbach hob nur eine Augenbraue und schrieb das Wort «Bismarck» an die Tafel.
    Schüler Tschichatschow würde heute nicht zum Unterricht erscheinen, erklärte er ganz nebenbei, und warum das so war, wusste er nicht, oder er sagte es nicht. Ich glaube, er wusste es nicht.
    Ich wurde ein bisschen traurig, als ich den leeren Platz sah, und ich wurde noch trauriger, als ich zu
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