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TS 44: Die Milliardenstadt

TS 44: Die Milliardenstadt

Titel: TS 44: Die Milliardenstadt
Autoren: Kurt Mahr
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als sieben Meter – was jedem, der die freie Weite anderer Städte gewöhnt war, ein unüberwindliches Gefühl der Platzangst verschaffte.
    Die Menschen, die in dieser „Stadt“ lebten, vermochten das Einödige ihres Daseins nur deshalb nicht zu verfluchen, weil sie niemals etwas anderes gesehen hatten.
    In dieser Stadt wurde Egan-Egan in dem Jahr geboren, in dem der schwere Unfall auf der siebzehnten Straße geschah. Egan-Egan hatte seinen Eltern schon in der ersten Stunde seines Daseins einen heillosen Schrecken eingejagt; denn er war im Augenblick seiner Geburt einundfünfzig Zentimeter groß und besaß eine helle Hautfarbe. Kinder der vierten Kaste jedoch waren nicht größer als dreißig Zentimeter und besaßen die dunkle Hautfarbe ihrer Eltern, die Zeit ihres Lebens unter einer künstlichen Beleuchtung mit einem permanent zu starken Anteil ultravioletter Strahlung zugebracht hatten.
    Tilda-Tilda, Egan-Egans Mutter, war darüber so erschrocken, daß sie unter dem Einfluß des Schreckens nach der harten Belastung, die die Geburt für sie gewesen war, beinahe gestorben wäre. Es war Tilda-Tildas Art, über alles maßlos zu erschrecken, was sie nicht verstand und was nicht in die Goldene Regel des Lebens hineinpaßte.
    Grit-Grit jedoch, Egan-Egans Vater, war ein für seine Verhältnisse intelligenter Mann mit einem kleinen Rest selbständigen Denkvermögens, das weiter zu schauen vermochte, als die Goldene Regel reichte. Grit-Grit war ein Mann, der schon verschiedene Male davon geträumt hatte, wie es wohl sein müsse, wenn er plötzlich, der uralten Erkenntnistreppe folgend, in die dritte, die zweite oder gar die erste Kaste hinaufversetzt würde. Natürlich hatte er diese Träume für sich behalten; denn die Erkenntnistreppe, die besagte, daß jeder nach dem Stand seiner Erkenntnis und Weisheit, nicht aber nach seiner Herkunft in irgendeine der vier Kasten eingestuft werde, wurde nicht mehr begangen, und es galt sogar als frevlerisch, wenn man an Avancement dachte.
    Grit-Grit jedenfalls schien sein Sohn Egan-Egan der fleischgewordene Wunschtraum zu sein, und er posaunte seinen Stolz so nachhaltig in der Gegend herum, daß man ihn schließlich aufmerksam machen mußte, daß er gefälligst den Mund halten solle und sein Sohn nach menschlichem Ermessen nur die eine Besonderheit besitze, eine Mißgeburt zu sein.
    Solcherart wurde der Weg, den Egan-Egan zu gehen hatte, schon in den Stunden seiner Geburt mit kantigen Steinen bestreut. Seine Mutter überwand ihren anfänglichen Schrecken niemals völlig und hielt ihn für ein Monstrum. Die Nachbarn, durch Grit-Grits Prahlerei aufgebracht, mochten das Kind von vornherein nicht leiden und teilten die Abneigung wiederum ihren Kindern mit, die später Egan-Egans Spielgefährten waren.
    An offizieller Stelle hielt man ihn für eine Fehlgeburt und hatte ein scharfes Auge auf ihn geworfen; denn wenn er sich tatsächlich als unnützes Mitglied der Gemeinschaft herausstellen sollte, würde er unvermeidlich den Weg zum Konverter wandern.
    Der einzige, der Egan-Egan liebte, war sein Vater. Er brachte sogar soviel Liebe auf, daß Egan-Egan nicht spürte, was ihm von anderer Seite an Zuneigung versagt wurde. Nur war auch dieses Glück nicht in der Lage, Egan-Egans Jugend für dauernd zu bestrahlen; denn Grit-Grit beging, als Egan-Egan fünf Jahre alt war, den Fehler, eines Abends von seinem Arbeitsplatz zu schnell nach Hause kommen zu wollen, übersprang dabei eines der Transportbänder, kam zu Fall und wurde mit einer Reihe anderer Leute, die durch seine Unachtsamkeit ebenfalls gestürzt waren, vom Geländer des Schnellverkehrsbandes zu Tode geschlagen.
    Da dies das bemerkenswerteste Ereignis im Laufe jenes Jahres war, nannte man es das Jahr des großen Unfalls in der fünften Straße. Acht Jahre von zehn wurden nach irgendwelchen Unfällen benannt. Nur in wenigen Fällen waren andere Ereignisse – zum Beispiel eine überaus hohe Geburtenzahl oder der Besuch eines Verwaltungsbeamten aus der dritten Kaste – schwerwiegend genug, daß sie eine Ausnahme von dieser Regel rechtfertigten.
    Erst später, als Egan-Egan längst die Fesseln seines viertkastigen Daseins abgestreift hatte und es für die neuentstehende Klasse der Geschichtswissenschaftler zur Mode wurde, sein Leben bis in die ersten Anfänge zu durchleuchten, fand man heraus, daß es in diesem Jahre ein noch viel schwerwiegenderes und weitreichenderes Ereignis gegeben hatte.
    Hier ist die Geschichte jenes
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