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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel
Autoren: Thomas Metzinger
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EINLEITUNG
    In diesem Buch werde ich Sie davon zu überzeugen versuchen, dass es so etwas wie »das« Selbst nicht gibt. Ganz im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen glauben, war oder hatte niemand je ein Selbst. Es ist aber nicht nur so, dass die moderne Philosophie des Geistes und die kognitive Neurowissenschaft im Begriff stehen, den Mythos des Selbst zu zertrümmern. Vielmehr ist mittlerweile auch deutlich geworden, dass wir das philosophische Rätsel des Bewusstseins – die Frage, wie es jemals auf einer rein physikalischen Grundlage wie dem menschlichen Gehirn entstehen konnte – niemals lösen werden, wenn wir uns nicht direkt mit der folgenden, ganz einfachen Erkenntnis konfrontieren: Nach allem, was wir gegenwärtig wissen, gibt es kein Ding, keine einzelne unteilbare Entität, die wir selbst sind, weder im Gehirn noch in irgendeiner metaphysischen Sphäre jenseits dieser Welt. Wenn wir daher vom bewussten Erleben als einem subjektiven Phänomen sprechen, dann stellt sich die folgende Frage: Was ist eigentlich die Entität, die diese Erlebnisse hat ?
    Es gibt viele andere wichtige und neue Fragestellungen auf der großen Suche nach einem tieferen Verständnis unserer inneren Natur – spannende, neue Theorien über Emotionen und Empathie, über den Traum und die menschliche Rationalität, neueste Entdeckungen über Willensfreiheit und die bewusste Steuerung unserer eigenen Handlungen und sogar über künstliches Bewusstsein –, und alle von ihnen sind wertvoll als erste Schritte und begriffliche Bausteine auf dem Weg zu einem tieferen Verständnis unserer selbst. In diesem Buch werden wir nacheinander viele von ihnen berühren. Was uns gegenwärtig jedoch am dringendsten fehlt, ist ein allererstes Gesamtbild – also der übergeordnete, allgemeinere Bezugsrahmen, mit dem wir arbeiten können. Die neuen Naturwissenschaften vomGeist haben zwar eine Flut wichtiger Daten geliefert, aber keine theoretische Vision, kein generelles Modell, das zumindest im Prinzip all diese Daten zu einer Ganzheit integrieren könnte. Einer zentralen Frage müssen wir uns so direkt wie möglich stellen: Weshalb gibt es immer jemanden, der das Erlebnis hat ? Wer ist es, der Ihre Gefühle fühlt, wer genau ist es, der Ihre Träume träumt? Wer ist der Handelnde, der das Tun tut, und was ist die Entität, die ihre eigenen Gedanken denkt? Warum ist Ihre bewusste Wirklichkeit Ihre bewusste Wirklichkeit?
    Dies ist der eigentliche Kern des Rätsels. Wenn es uns nicht nur um die Bausteine, sondern um ein vereinheitlichtes Ganzes geht, dann sind dies die entscheidenden Fragen. Jetzt gibt es eine neue Geschichte – eine provokante und für manche vielleicht sogar schockierende Geschichte –, die man über den Weg zur Lösung des Rätsels erzählen kann: Es ist die Geschichte vom Ego-Tunnel.
    Die Person, die Ihnen diese Geschichte erzählt, ist ein Philosoph – aber einer, der seit vielen Jahren mit Hirnforschern, Kognitionswissenschaftlern und Forschern auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz zusammengearbeitet hat. Im Unterschied zu vielen meiner Kollegen in der Philosophie bin ich der Auffassung, dass empirische Daten für philosophische Fragestellungen oft unmittelbar relevant sind und dass weite Teile der akademischen Philosophie solche Daten viel zu lange ignoriert haben. Die besten Philosophen in diesem Feld sind zweifellos die analytischen Philosophen, also jene Denker, die in der Tradition Gottlob Freges und Ludwig Wittgensteins stehen: In den letzten fünfzig Jahren kamen die besten und substanziellsten Beiträge eindeutig aus der analytischen Philosophie des Geistes. Neben den empirischen Daten gab es beim Aufstieg auf die begriffliche Ebene aber noch einen zweiten Aspekt, der viel zu sehr vernachlässigt wurde: die Phänomenologie , die feinkörnige und sorgfältige Beschreibung des inneren Erlebens als solchem. Insbesondere veränderte Bewusstseinszustände (wie etwa Meditation, Klarträume oder außerkörperliche Erfahrungen) und psychiatrische Krankheitsbilder (wie etwa die Schizophrenie oder das Cotard-Syndrom, bei dem die Patienten tatsächlich fest davon überzeugt sein können, dasssie selbst überhaupt nicht existieren) sollten keine philosophischen Tabuzonen sein. Im Gegenteil: Wenn wir dem Reichtum und der Tiefe des bewussten Erlebens unsere Aufmerksamkeit schenken, wenn wir uns nicht scheuen, Bewusstsein in all seinen subtilen Variationen und Grenzfällen wirklich ernst zu nehmen, dann werden wir
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