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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel
Autoren: Thomas Metzinger
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und genau gleichzeitig mit einem Stäbchen gestreichelt. Die hellen Bereiche um die Hand und die schwarzen Bereiche um den Zeigefinger stellen die jeweiligen taktilen und visuellen rezeptiven Felder für Neuronen im prämotorischen Kortex dar. In der rechten Abbildung sieht man die Illusion der Versuchsperson, bei der die gefühlten Berührungen in Einklang gebracht werden mit den gesehenen Berührungen durch das Stäbchen (die dunklen Felder stellen Gebiete erhöhter Hirnaktivität dar; die phänomenal erlebte, illusorische Armstellung wird durch die helle Umrisslinie dargestellt). Die mit dem Auftreten der Illusion einhergehende Aktivierung von Neuronen im prämotorischen Kortex lässt sich experimentell nachweisen. (M. Botvinick & J. Cohen, »Rubber Hand ›Feels‹ Touch That Eyes See«, Nature 319 [1998], S. 756.) Abbildung Litwak Illustrations Studio , 2004.
    Besonders interessant bei diesem Experiment war für mich das seltsame Kribbeln in der Schulter kurz vor dem Einsetzen der eigentlichen Illusion – kurz bevor mein »Seelenarm« oder mein »astrales Körperglied« sozusagen vom unsichtbaren physischen Arm in die Gummihand schlüpfte. Natürlich gibt es keinen »Geisterarm« und vermutlich auch keinen Astralleib. Das, was man bei der Gummihand-Illusionerlebt, ist das, was ich den Inhalt des phänomenalen Selbstmodells (PSM) nenne – das bewusste Modell des Organismus als Ganzem, welches vom Gehirn aktiviert wird. (»Phänomenal« wird hier und nachfolgend im philosophischen Sinne verwendet und bezieht sich auf alles, was wir allein auf der Ebene des bewussten Erlebens erfahren, eben auf die Art und Weise, wie uns die Welt subjektiv erscheint. ) Der Inhalt des PSM ist das Ego.
     
    Heute gibt es einen jahrhundertealten Begriff aus der Philosophie, der wieder hoch im Kurs steht, weil er die wahrscheinlich wichtigste Brücke zur Hirnforschung, zur Kognitionswissenschaft und zur Künstliche-Intelligenz-Forschung bildet. Fast alle Wissenschaftler, die den menschlichen Geist erforschen, sprechen von »Repräsentationen« – im Gehirn, im Geist oder auch in einem Roboter. »Repräsentation« meint dabei vor allem die Fähigkeit, die Außenwelt beziehungsweise das, was man wahrnimmt, im Geiste gleichsam widerzuspiegeln und darzustellen, indem man sich eine innere Vorstellung davon macht. Ein geistiger Zustand repräsentiert einen Teil der Wirklichkeit – etwa das Buch in Ihrer Hand –, indem er einen inneren Stellvertreter des Buchs erzeugt. Interessanterweise sind wir Menschen sogar in der Lage, uns sowohl die konkreten als auch die abstrakten Eigenschaften eines Gegenstands vorzustellen: Wir können die Farbe und das Gewicht des Buchs imaginieren, aber auch seinen Inhalt mental repräsentieren. »Repräsentieren« ist Wahrnehmen und Denken, und es kann manchmal (wie beim Gedächtnis) auch bedeuten, dass man etwas Vergangenes wieder in die Gegenwart zurückholt, indem man es gewissermaßen auf der inneren Bühne des Bewusstseins wieder »präsent« macht. Der interessanteste Fall ist jedoch der, dass ein Wesen sich selbst repräsentiert – zum Beispiel mit einem phänomenalen Selbstmodell.
    Das PSM von Homo sapiens ist wahrscheinlich eine der besten Erfindungen von Mutter Natur. Es erlaubt einem biologischen Organismus auf effiziente Weise, sich selbst (und andere) bewusst als eine Ganzheit zu begreifen. Dadurch befähigt es den Organismus, auf intelligente und holistische Weise mit seiner Innenwelt wie auch deräußeren Umwelt in Wechselwirkung zu treten. Die meisten Tiere besitzen Bewusstsein in unterschiedlichen Graden der Ausprägung, aber ihr PSM ist anders als unseres. Unser in der Evolution entstandener Typ von bewusstem Selbstmodell ist einzigartig und für das menschliche Gehirn spezifisch, und zwar deshalb, weil wir den Vorgang des Repräsentierens an sich noch einmal repräsentieren und uns dadurch selbst – wie Antonio Damasio sagen würde – »im Akt des Wissens« ertappen können. Wir repräsentieren uns mental als repräsentationale Systeme, und wir tun es in phänomenologischer Echtzeit. Diese Fähigkeit verwandelt uns in Denker von Gedanken und in Wesen, die andere Denker in ihrer Umgebung entdecken können – Wesen, die fremde Bewusstseinsinhalte als solche erfassen. Sie war es auch, die es ermöglichte, dass die biologische Evolution gleichsam in die kulturelle Evolution hineinexplodierte. Das Ego erwies sich als ein extrem nützliches Werkzeug, als ein Instrument, das uns dabei
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