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Tropismen

Tropismen

Titel: Tropismen
Autoren: Nathalie Sarraute
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Faust. Er sah zu, wie sie ein wenig zappelte, wie sie sich ungeschickt sträubte und kindisch mit ihren kleinen Füßen in der Luf herumschlug, und dabei immer liebenswürdig lächelte: »Doch, ja, ich glaube, so ist es gut. Sie sprechen gut aus. Tatsächlich, das t-h … Tha … Tackeray … Ja, so ist es. Aber sicherlich, ich kenne Vanity Fair. Ja bestimmt, das ist von ihm.«
    Er drehte sie ein wenig, um sie besser zu sehen: – »Vanity Fair? Vanity Fair? Ach ja, sind Sie sicher? Vanity Fair? Das ist von ihm?«
    Sie zappelte anmutig weiter, immer mit ihrem kleinen höflichen Lächeln, mit ihrem Ausdruck forschenden Wartens. Er drückte sie immer mehr: »Und welche Strecke nehmen Sie? Über Douvres? Über Calais? Dover? Nicht wahr, über Dover? So ist es wohl? Dover?«
    Es gab kein Mittel, ihm zu entrinnen. Kein Mittel, ihn aufzuhalten. Und sie hatte so viel gelesen … hatte über so viele Dinge nachgedacht … Er konnte so reizend sein … Aber er hatte seinen schlechten Tag, eine seiner wunderlichen Launen. Mitleidlos, pausenlos fuhr er fort: »Dover, Dover, Dover? Wie? Nicht wahr? Thackeray? Wie? Thackeray? England? Dickens? Shakespeare? Nicht wahr? Nicht wahr? Dover? Shakespeare? Dover?« – und sie wird weiter versuchen, sich zu befreien, sanf, ohne hefige Bewegungen zu riskieren, die ihm mißfallen könnten, und wird ehrfurchtsvoll mit leiser, mit gerade ein wenig bedeckter Stimme antworten: »Ja, Dover, richtig. Sie haben wohl of diese Reise gemacht? … Ich glaube, es ist bequemer über Douvres. Ja, wirklich … Dover.«
    Er wird erst zu sich kommen, seine Faust lockern, wenn er ihre Eltern kommen sieht, und sie wird endlich, ein wenig rot, ein wenig zerzaust, das hübsche Kleid ein wenig zerknittert, ohne Furcht, daß er verstimmt würde, wagen, ihm zu entschlüpfen.

XVI

    Sie waren jetzt alt, sie waren ganz verbraucht, »wie alte Möbel, die viel benützt wurden, die ausgedient und ihren Zweck erfüllt hatten«, und manchmal stießen sie (das war ihre Koketterie) eine Art trockenen Seufzer aus, voll Verzicht und Erleichterung, und er hörte sich wie ein Knarren an.
    An den milden Frühlingsabenden gingen sie zusammen aus, »jetzt, da die Jugend vergangen, jetzt, da die Leidenschafen zu Ende waren«, sie gingen still spazieren, »ein wenig frische Luf schöpfen vor dem Schlafengehen«, setzten sich in ein Café, wollten einige Augenblicke schwatzen.
    Mit viel Vorsicht wählten sie einen gut geschützten Winkel (»hier nicht, das ist im Lufzug, dort nicht, gerade neben den Waschräumen«), sie setzten sich – »Ach! diese alten Knochen, man wird alt. Ach! Ah!« – und sie ließen ihr Knarren hören.
    Der Saal hatte einen schmutzigen und kalten Glanz, die Kellner gingen zu schnell herum, hatten ein fast rohes, gleichgültiges Benehmen, hart zeigten die Spiegel zerknitterte Gesichter und fortwährend blinzelnde Augen.
    Aber sie verlangten nichts andres, es war so, sie wußten es, man durfe nichts erwarten, nichts verlangen, es war so, es gab nichts anderes mehr, das war es, »das Leben«.
    Nichts andres, nichts mehr, hier oder dort, sie wußten es jetzt.
    Man durfe nicht aufegehren, träumen, warten, Anstrengungen machen, fliehen, man mußte eben nur aufmerksam wählen (der Kellner wartete), sollte es ein Granatapfelsaf oder ein Kaffee sein? mit Sahne oder schwarz? – und willig und bescheiden leben – hier oder dort – und die Zeit verstreichen lassen.

XVII

    Wenn es an den Feiertagen schön zu werden begann, machten sie einen Spaziergang in die Wälder am Stadtrand.
    Das struppige Buschwerk war von Kreuzungen durchbrochen, an denen geradlinige Alleen symmetrisch zusammenliefen. Das Gras war schütter und niedergetreten, aber an den Zweigen begannen junge Blätter zu sprießen, ohne daß es ihnen gelang, ein wenig von ihrem Glanz um sich herum zu verbreiten: sie glichen jenen Kindern mit säuerlichem Lächeln, die in den Sälen der Spitäler ihr Gesicht unter der Sonne runzeln.
    Zum Essen setzten sie sich an den Rand der Straßen oder in kahle Lichtungen. Sie schienen nichts zu sehen, sie waren stärker als all das, die schrillen Vogelrufe, die zweifelhaf aussehenden Knospen, das gehäufe Laub; die dichte Atmosphäre, in der sie immer lebten, umgab sie auch hier, sie stieg aus ihnen wie ein schwerer und beißender Dunst.
    Den Kameraden ihrer Mußestunden hatten sie mit sich genommen, ihr kleines, einsames Kind. Als das Kind sah, daß sie sich an dem Ort, den sie ausgesucht hatten, niederließen,
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