Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tropismen

Tropismen

Titel: Tropismen
Autoren: Nathalie Sarraute
Vom Netzwerk:
einen Wartesaal in einem verlassenen Vorstadtbahnhof denken ließ, an einen nackten, grauen, lauwarmen Saal mit einem schwarzen Ofen in der Mitte und Holzbänken die Wände entlang.
    Und sie waren zufrieden, sie waren gerne hier, sie fühlten sich fast zu Hause, sie standen gut mit der Frau Hausmeisterin, mit der Milchfrau, und ihre Kleider gaben sie zu der gewissenhafesten und billigsten Reinigerin des Viertels.
    Sie suchten sich niemals des offenen Landes zu erinnern, wo sie einst gespielt hatten, nie suchten sie sich die Farbe und den Geruch der kleinen Stadt wieder vorzustellen, wo sie aufwuchsen, niemals sahn sie in sich, wenn sie durch die Straßen ihres Viertels gingen, wenn sie die Auslagen der Kaufäuser betrachteten, wenn sie bei der Hausmeisterloge vorübergingen und die Hausmeisterin sehr höflich grüßten, nie sahn sie in ihrer Erinnerung eine lebenüberschwemmte Mauer aufsteigen, oder das Pflaster eines Hofes, hart und einschmeichelnd, oder eine sanf aufsteigende Freitreppe, auf deren Stufen sie als Kinder gesessen. Auf der Stiege ihres Hauses trafen sie manchmal »den Mieter von unten«, Lehrer am Gymnasium, der mit seinen zwei Kindern um vier Uhr aus der Schule kam. Alle drei hatten lange Köpfe mit blassen, glänzenden Augen, die glatt waren wie große Elfenbeineier. Einen Augenblick öffnete sich spaltbreit die Tür ihrer Wohnung, um sie einzulassen. Man sah sie ihre Füße auf kleine Filzabstreifer stellen, die beim Eingang auf dem Boden lagen, und sich still entfernen, in die düstere Tiefe des Vorraums gleitend.

IV

    Sie radebrechten halb ausgesprochene Dinge, mit verlorenem Blick, und als folgten sie im Innern einem feinen und heiklen Gefühl, das sie anscheinend nicht ausdrücken konnten.
    Er drängte sie: »Und warum? und warum? Warum also bin ich ein Egoist? Warum ein Menschenfeind? Warum das? Sagt, sagt!«
    In der Tiefe ihrer Seele, sie wußten es, spielten sie ein Spiel, gaben sie irgendeinem Antrieb nach. Manchmal schien es ihnen, daß sie ununterbrochen auf einen Stab blickten, der in ihm war, den er die ganze Zeit handhabte, wie um sie zu lenken, den er leicht schwenkte, um sie im Gehorsam zu halten, wie ein Ballettmeister. Da, da, da – sie tanzten, wendeten sich und drehten sich, boten ein wenig Geist, ein wenig Intelligenz, aber so, als rührten sie nicht daran, aber ohne je auf die verbotene Ebene zu wechseln, die ihm mißfallen könnte. »Und warum? Und warum? Und warum?« Nur weiter! Vorwärts! Ach! Nein, das stimmt nicht! Zurück! Zurück! Doch, ja, der heitere Ton, ja, und noch, sachte, auf den Fußspitzen, der Scherz und die Ironie. Ja, ja, man kann versuchen, das sitzt. Und die einfältige Miene jetzt, mit der man Wahrheiten zu sagen wagt, die hart erscheinen können, so beschäfigt man sich mit ihm, denn er hatte das gerne, ihn necken, er hatte dieses Spiel leidenschaflich gern. Da, Achtung, behutsam, behutsam, es wird gefährlich, doch man kann es versuchen, man kann es prickelnd finden, ergötzlich, verfänglich. Das ist jetzt eine Geschichte, die Geschichte eines Skandals, aus der Intimität von Leuten, die er kennt, zu denen er Zutritt hat und die ihn schätzen. Das wird ihn interessieren, für gewöhnlich liebt er das … Aber nein! ach! das war verrückt, das interessiert ihn nicht oder es hat ihm mißfallen: plötzlich runzelt er die Stirn, wie ist er fürchterlich, er wird sie wütend, knurrend anfahren, er wird ihnen etwas Erniedrigendes sagen, er wird ihnen (sie wissen nicht wie) ihre Niedrigkeit zum Bewußtsein bringen, wenn nicht jetzt, so beim geringsten Anlaß, ohne daß man ihm erwidern könnte, auf seine versteckte, üble Art. Welch eine Erschöpfung, mein Gott! Welch eine Erschöpfung bedeutet dieses Sichausgeben, dies ständige Tänzeln vor ihm: rückwärts, vorwärts, vorwärts, vorwärts, und wieder rückwärts, jetzt diese drehende Bewegung um ihn, und noch dazu auf den Fußspitzen, ohne ihn aus dem Auge zu lassen, und seitwärts und vorwärts und rückwärts, alles um ihm diesen Genuß zu verschaffen.

V

    An den sehr heißen Juli-Tagen warf die Mauer gegenüber ein hart glänzendes Licht auf den kleinen feuchten Hof.
    Unter dieser Hitze gab es eine große Leere, eine Stille, und alles schien aufgehalten; man hörte nur, aggressiv, schrill, das Knirschen eines Stuhles, der über die Fliesen gezogen wurde, das Zufallen einer Tür. In dieser Hitze, in dieser Stille – war es ein plötzliches Frösteln, ein Riß. Und sie blieb, ohne sich zu rühren,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher