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Tropismen

Tropismen

Titel: Tropismen
Autoren: Nathalie Sarraute
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am Rand ihres Bettes, suchte möglichst wenig Platz einzunehmen, angespannt, als wartete sie darauf, daß in der drohenden Stille irgend etwas platze, auf sie falle.
    Das scharfe Zirpen einer Grille in der unter der Sonne versteinerten und wie toten Wiese ruf manchmal diese Empfindung von Kälte hervor, von Einsamkeit, von Aufgegebensein in einem feindlichen All, wo sich irgend etwas Ängstigendes vorbereitet.
    So verharrt man, unter der heißen Sonne im Gras ausgestreckt, und späht, und wartet.
    In der Stille hörte sie – und es drang die alten,
    blaugestreifen Tapeten des Ganges entlang, die schmutzige Malerei entlang bis zu ihr – das winzige Geräusch des Schlüssels in der Eingangstür. Sie hörte, wie die Tür des Kontors sich schloß. Sie blieb da, immer noch zusammengezogen, wartend, ohne etwas zu tun. Die geringste Handlung, etwa in das Badezimmer zu gehen, um sich die Hände zu waschen, den Wasserhahn aufzudrehn, schien eine Herausforderung, eine plötzlicher Sprung ins Leere, eine Tat äußerster Kühnheit. Das Geräusch des Wassers, in dieser aufgehaltenen Stille wäre es wie ein Signal, wie ein Ruf, der ihnen gälte, es wäre wie eine fürchterliche Berührung, so als berührte man mit der Rutenspitze eine Qualle und wartete dann mit Abscheu, daß sie plötzlich zusammenführe, sich aufäumte und sich wieder einkrümmte.
    So fühlte sie sie: ausgelegt, unbeweglich hinter den Wänden, und bereit, zusammenzufahren, sich zu regen.
    Sie rührte sich nicht. Und um sie herum, das ganze Haus, die Straße schienen sie zu bestätigen, schienen diese Unbeweglichkeit natürlich zu finden.
    Es schien gewiß: wenn man die Tür öffnete und wenn man die Stiege sah, ganz in unerbittlicher Ruhe, unpersönlich und farblos, eine Stiege, die nicht die geringste Spur der Leute, die über sie gelaufen waren, nicht die geringste Erinnerung an sie bewahrt hatte; wenn man sich hinter das Fenster des Eßzimmers stellte und die Häuserfassaden betrachtete, die alten Frauen und die kleinen Kinder, die auf der Straße gingen, es schien gewiß, daß man so lange wie möglich – warten mußte, unbeweglich bleiben wie sie, nichts tun, sich nicht rühren, daß das höchste Begreifen, die wirkliche Einsicht eben das war, nichts zu unternehmen, sich so wenig wie möglich zu bewegen, nichts zu tun.
    Man konnte höchstens, wenn man achtgab und niemand weckte, ohne sie anzublicken, die düstere und tote Stiege hinuntergehen, und bescheiden die Gehsteige entlang, die Mauern entlang weiter, eben nur um ein bißchen Atem zu schöpfen, um ein bißchen Bewegung zu machen, ohne zu wissen, wohin man geht, ohne Wunsch, irgendwohin zu gehn, und dann nach Hause zurückkommen, sich auf den Bettrand setzen und von neuem warten, eingekrümmt, unbeweglich.

VI

    Am Morgen sprang sie sehr früh aus ihrem Bett, lief durch die Wohnung, bitter, verkrampf, ganz beladen mit Schreien, Gebärden, zornigem Keuchen, mit »Szenen«, Sie ging von Zimmer zu Zimmer, stöberte in der Küche, stieß wütend an die Tür des Badezimmers, das jemand benützte, und sie hatte Lust, zu intervenieren, zu dirigieren, sie zu schütteln, sie zu fragen, ob sie dort eine Stunde bleiben wollten, oder sie zu erinnern, daß es spät sei, daß sie die Straßenbahn oder den Zug versäumen würden, daß es schon zu spät wäre, daß sie irgend etwas versäumten, weil sie sich gehen ließen, durch ihre Nachlässigkeit, oder daß ihr Frühstück angerichtet sei, daß es kalt würde, daß es seit zwei Stunden warte, daß es eiskalt sei … Und scheinbar gab es in ihren Augen nichts Verachtungswürdigeres, Dümmeres, Hassenswerteres, Häßlicheres, kein klareres Zeichen von Niedrigkeit, von Schwäche, als das Frühstück kalt werden zu lassen, warten zu lassen.
    Die eingeweiht waren, und die Kinder, beeilten sich. Die anderen, sorglos und nachlässig gegen die Dinge, denn sie wußten nichts von ihrer Macht in diesem Hause, antworteten höflich, auf ganz natürliche und freundliche Art: »Danke sehr, beunruhigen Sie sich nicht, ich trinke den Kaffee gerne ein wenig kühl.« Und ihnen, den Fremden, wagte sie nichts zu sagen; aber wegen dieses einen Wortes, wegen dieses kleinen glatten Satzes, mit dem sie sie sanf, lässig, mit einer Handbewegung zurückwiesen, ohne sie überhaupt zu beachten, ohne sich einen Augenblick bei ihr aufzuhalten – allein deswegen begann sie sie zu hassen. Die Dinge! die Dinge! Das war ihre Stärke. Die Quelle ihrer Macht. Das Werkzeug, dessen sie sich in
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