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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir
Autoren: Dirk Bernemann
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gestimmt und rühmt sich damit, einen Behinderten eingefangen zu haben. So stabilisieren sie das System, denken die uniformierten Männer, wir bringen abhanden gekommene Jungs zu ihren Müttern zurück, wir machen Familien ganz und die Welt heile und zaubern Lächeln hier und da, tatütata. Die Reizgas- und Wasserwerferattacken treffen doch auch nur die, die das verdient haben.
    Man hält vor dem Haus von Roys Familie. Kurz vor dem Aussteigen aus dem Polizeiauto wird ihm noch klar, dass sein Vater nicht mehr da sein wird. Er denkt kurz über diesen Umstand nach, der immer egaler, schließlich dann bis zur Unerheblichkeit egal wird. Sein Vater war ein guter, stiller Mann, aber eben nur gut und still und nicht mehr. Sein Herz hatte er schon zu Lebzeiten einbetoniert, und das war dem Roy immer klarer geworden.
    Zuhause gibt es zunächst einmal viel Geheule und Geschrei seitens der Mutter, die der Ansicht war, an einem Tag nicht nur ihren Mann, sondern auch ihren Sohn verloren zu haben. Sie hat teuflisch rotgeheulte Augen und ein zerknittertes Gesicht, das wie ein achtlos weggeworfenes Handtuch wirkt, mit dem sich niemand, der auf amtliche Hygiene steht, mehr abtrocknen mag. Roy blickt in das Gesicht seiner Mutter, während die Polizisten den Sachverhalt erklären und so tun, als wären sie Roys beste Freunde. »Jaha«, sagt der eine der beiden Bullen, »auf der Fahrt hierher haben wir uns gut verstanden, und der Ron hat auch gesagt, dass er nie mehr weglaufen mag, stimmt’s, Ron?« Roy nickt geistesabwesend und schaut immer noch seine Mutter an, die nicht mal seinen falschen Namen korrigiert, sondern nur lächelt und ebenfalls nickt und den Polizisten seine Lügenscheiße erzählen lässt. Alle sind hier in Zustimmungstimmung, es wird genickt, Lügen werden erzählt, und durch jede Pore der Anwesenden stolpern Widersprüche. Der Widerspruch aus Wissen und Verhalten, der Widerspruch aus Gefühl und Handeln, der Widerspruch aus Hass und Passivität. »Schade, dass er nicht spricht«, sagt der andere Polizist dann, »sonst könnte er uns erzählen, wo er gewesen ist.« Das sollte wohl besser ein Geheimnis bleiben, denkt Roy.
    Als die Polizisten dann verschwunden sind, sitzt Roy dann still in einer Ecke, die Mutter in einer anderen, und so tropfen widerlich stumme Stunden zäh durch die Atmosphäre. Das Schweigen, darauf kann man sich verlassen, denkt Roy. »Jetzt hab ich nur noch dich«, sagte die Mutter, kurz bevor sie ihren Sohn zu Bett schickte, und es klang wie eine Drohung, die jemand absolut Verzweifeltes absonderte.
    In der anderen Wohnung ist es auch leise. Solveig erwacht zerknittert und dehydriert in ihrem Bett. Solveig, so gut. Die Übelkeit ist einer matten Dumpfheit gewichen, ein Gefühl wie unter Wasser, hinter Watte. Kopf in den Wolken und der Restkörper trotzdem einbetoniert. Diesem Zustand kann man ein wenig Romantik abgewinnen, denkt Solveig und gewinnt diesem Zustand ein wenig Romantik ab. Das Daliegen, das Halbwachsein, das erstmal nichts tun müssen und das gleichzeitige Wissen, auch gar nichts tun zu können, das kommt ihr gerade beim Liegen sehr gelegen.
    Solveig hat nicht mehr kotzen müssen, ihr Körper hat sich leicht erholt während einer fünfstündigen Schlafphase. Die Flauheit im Magen ist immer noch da, rührt aber eher vom Bedürfnis nach Nahrung als von beständig bestehender Übelkeit. Solveig geht ins Bad und wäscht ihr Gesicht. Nirgendwo findet sie Spuren ihrer Bekleidung, die sie gestern trug, und es ist ihr immer noch ein Geheimnis, wie sie in diese Wohnung gekommen ist. Vielleicht wird Jenny ihr Auskunft geben, und sie klopft an ihre Zimmertür, und als niemand antwortet, geht sie hinein, und es ist niemand zugegen. Keine Jenny, nirgends.
    Sie geht dann in die Küche, wo sie auf dem Küchentisch einen Zettel findet, auf dem zu lesen ist: »Bin paar Tage unterwegs, bin nächste Woche Dienstag wieder da. Kuss, Jenny.« Jetzt zerfällt die Jenny-Idee auch noch in ihre Einzelteile. Dann hat sie Solveig wohl auch nicht zu Bett geholfen, nur wer, verdammt, war es dann? Solveig macht sich eine Suppe und einen Kamillentee, um ihren Magen nicht sofort aufs Äußerste zu reizen, obwohl ihr nach Pizza, Pommes und gebratenen und scharf gewürzten Tierteilen ist. Und zwar alles auf einmal, aber eine Suppe ist schneller gemacht als derlei aufwendiges Fettessen, und so dümpelt sie mit Fertigsuppe und Teetasse gen Wohnzimmercouch. Es sieht alles aufgeräumter aus, aufgeräumter als sonst, denkt
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