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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir
Autoren: Dirk Bernemann
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reißt ihre Augen auf, und Roy tut es ihr gleich, und er ist überrascht von der Menge und der Geschwindigkeit des Blutes, das nun die alte Frau verlässt. Das Blut fließt sturzbachartig aus Ingeborg raus und schwemmt die Küche mit sich voll. Für einen kurzen Moment sieht sie wie ein würdevoller Springbrunnen aus.
    Ingeborg will aufstehen, greift an das Messer, gleichzeitig mit der anderen an die Wunde, die es in sie gemacht hat. Aufstehen geht nicht mehr, und Roy steht stumm daneben und sieht, wie aus Ingeborg immer mehr Blut fließt. Den alten Kittel runter, ein bisschen auf den Tisch, sehr viel davon auf den Boden, und es bildet kleine Bäche und Seen und viele rote Flüsse, die Roy faszinieren. Er guckt Ingeborg beim Sterben zu, die das Messer quer in ihrem Hals aus Lehm weiß und guckt, als wäre sie grad in diesem von Wolken gesäumten Gang, den sie vorhin so wortreich und poetisch beschrieben hat. Da ist Verwunderung wegen der Verwundung und eine Ungläubigkeit in ihrem eben noch so selbstherrlichen Blick. Der Blick schleicht sich langsam aus dem alten Lehmgesicht und weicht einem Ausdruck von absoluter Leere. Der Kopf knallt auf den Tisch. Die Frau fällt daraufhin vom Stuhl. Ein unbedeutendes Leben endet.
    Roy steht immer noch neben der Frau, deren Blut jetzt langsamer fließt. Er fühlt sich befreit, aber langsam schleichend kommt ein Wort in sein Bewusstsein, kommt fließend in seinen Kreislauf, und plötzlich fühlt er, wie es auf seiner Stirn steht. Mörder. Mörder. Mörder. Roy fasst sich an die Stirn, meint dort dieses Wort zu fühlen, steht auf, geht in der Küche herum, und er meint, das Wort brennt sich langsam durch seine dicke, weiße Stirnhaut in den geschützten Raum seines Gehirns. Er geht in den Flur, lässt die alte Frau alleine ausbluten, macht eine zufällige Tür auf und ist in einem Schlafzimmer. Roy macht das Licht an und steht vor einem großen Ehebett. Es ist ordentlich bezogen, aber man riecht, dass hier schon mal der Tod am Werk war. Roy weiß zwar nicht wie totes Gewebe riecht, das man irgendwo vergisst, weil man es irgendwo hingelegt hat, aber genauso wie es hier riecht, stellt er sich das vor. Es ist so ein Kellergeruch, wo kalte Luft mit warmer kollidiert und eine feine Note Schimmel mit sich trägt. In einer Ecke des Raumes steht ein riesiger Kleiderschrank aus rustikalem Eichenholz, in dessen mittlerer Tür ein Spiegel eingelassen ist.
    Roy stellt sich vor diesen Schrank und ist zunächst mal erleichtert. Da steht nichts auf seiner Stirn. Nicht »Mörder« und auch sonst nichts. Kein Wort auf seiner Stirn, und Roy steht vor dem Schrank der Frau und guckt sich in ihrem Spiegel an. An den Händen, im Gesicht und auf der Kleidung hat die Frau etwas Blut auf ihn gespritzt, das kam aus ihr heraus, wahrscheinlich beim Einstechen des Messers in ihren knochigen Hals.
    Roy fühlt eine Gelassenheit, eine seltsame Ruhe ist in ihm, als er da so steht, vor dem Spiegel der Frau, die tot in ihrer Küche auf einem Stuhl hängt und vorhin noch mit dem Sterben beschäftigt war, jetzt aber definitiv damit durch sein dürfte. Roys Wahnsinn hat keine Nachlässigkeit zugelassen, er hat der Frau genommen, was sie scheinbar zu viel hatte: ein verdammtes Leben. Er schaut sich in die Augen, und seine Augen schauen zurück, und er denkt an seinen Vater, der jetzt auch tot ist, und seine Mutter, die irgendwie auch schon tot ist, nur hat es ihr noch keiner gesagt.
    Roy geht in die Küche, die alte Frau liegt immer noch so neben dem Stuhl, und um ihren Hals hat sich ein roter See gebildet. Ihr unveränderbarer Zustand, ihr schlaffer, blutbesudelter Körper, all das stört Roy nicht, als er mit Bedacht das Buttermilchpaket vom Boden aufhebt und es in den Kühlschrank gibt. Haltbar bis in zwei Tagen steht darauf, und das sind immerhin noch zwei Tage, weiß Roy. Im Kühlschrankinneren ist es relativ einsam für das Buttermilchpaket, es steht da mit einer Halbfettmargarineschale, einer Salami, von der alte Frauen mit scharfen Messern gerne was abschneiden. Roy kennt diese Salamischneidefrauen, seine Mutter gibt sich auch gern dem Ritual des Wurstabschneidens hin. Aber diese Frau hier, wird nie mehr von irgendeiner Salami irgendetwas abschneiden, weil Messer kaputt und Frau tot. Roy fasst kurz die Salami an, die steinhart ist und nahezu ein ähnliches Alter aufzuweisen scheint, wie die tote Frau.
    Was soll ich noch hier, fragt sich Roy und sieht, dass er alles, was er für die Frau hätte machen können,
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