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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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sorgen, daß sie sich nicht daran erinnerte. Warum hatte ich es nicht getan? Es war eine Frage, ähnlich der, warum ich mich dazu hatte zwingen lassen, Querinia auszupeitschen. Ich hätte es nicht tun müssen, meine Kraft hätte es mir ermöglicht, den Besitz der Gordovanaz zu verlassen. Allerdings wäre es schwieriger gewesen, anschließend an Boromeo heranzukommen, vielleicht gar unmöglich, da er gewarnt gewesen wäre. Ich hatte diese Situation oft durchträumt, vor allem nach Kuslik.
    Da ich gelernt habe, daß wir uns vor allem verstecken können, nur nicht vor uns selbst, brachte ich mir die vergangenen Tage in Erinnerung, und je mehr ich darüber nachdachte, desto sinnloser kam es mir vor, Ishajid getötet zu haben. Sie hätte zwar irgendwann das gleiche bei mir versucht, aber das war kein Grund, so zu handeln, da ich auch nicht jede Maraske töte, die mir über den Weg läuft. Ich ärgerte mich darüber, und irgendwann wußte ich auch warum: Die entstehende Bruderschaft hatte die Zaboroniten vernichtet, um zu überleben, aber ich hatte jemanden wegen eines Krieges getötet, der vor zweihundert Jahren ausgefochten worden war.
    »Wie sinnlos!« rief ich, stand auf, trat zum Fenster, sah hinaus. Es war noch Tag, doch die Scheibe des Madamals stand bereits am Himmel, bleich und rund, der Rand etwas verschwommen. Ich sah ihn immer noch nicht, aber es wurde Zeit für mich zu gehen, bevor er ins Haus kam. Ich wollte nicht von ihm überrascht werden.
    Plötzlich fragte ich mich, warum Xanjida die Karte aus dem Kloster mitgenommen hatte. Der Amran Thjemen ist kein Berg, für den man eine Karte benötigt, um ihn zu finden, er erhebt sich stolz, majestätisch und weithin sichtbar. Und es war der Amran Thjemen, der genau im Gleichgewichtspunkt des Dreiecks Jergan-Boran-Tuzak lag, wenn die Karte nicht zu ungenau war, aber es war eine thorwalsche Karte, etwas Besseres gibt es nicht. Warum hatte sie sie mitgenommen? Ich blieb stehen. Meine Mutter fiel mir ein. Sie hatte irgend etwas mit der Karte Zusammenhängendes gesagt. Was hatte sie gesagt?
    Ich stand vor dem Sekretär, zerrte an der fehlenden Erinnerung und schlug dabei rhythmisch auf die Schreibplatte, bis mir die Knöchel schmerzten. Endlich erinnerte ich mich. Nicht sie hatte es gesagt, ich hatte es zu ihr gesagt: ›Viele suchen Schutz vor dem Angesicht der Nacht. Das kann heißen, daß sie Schutz vor Borbarad suchen oder Schutz, bevor er kommt. Es ist doppeldeutig.‹ Konnte es zwei Orte geben? In der Mitte und am Rand der Welt? Ich stürzte in den Raum der Toten und studierte die Karte. ›In der Mitte der Städte‹ war einfach, das war der Thjemen, eindeutig. Doch wo lag der Ort, an dem die Welt endete? Dort, wo die Karte endete? Im Ehernen Schwert, im sagenumwobenen Güldenland, im Riesland, das nicht einmal mit Gewißheit existierte, oder auf irgendeiner Insel, die es geben mochte oder die die pure Phantasterei war? Wo lag der Rand der Welt?
    Zendajian hatte behauptet, der Weltendiskus habe einen Durchmesser von dreiunddreißigtausend Meilen, doch wer mochte sagen, in welcher Richtung der kürzeste Weg zum Rand lag, wenn niemand seine Mitte kannte? Maraskan konnte sich irgendwo auf dem Diskus befinden, vielleicht dicht am Rand, vielleicht eher in der Mitte, niemand wußte, wo die Mitte war. »Niemand weiß, wo die Mitte ist!« Ich schrie die Worte förmlich hinaus. Dann trennte ich einen Faden aus Ishajids Gewand und maß die Strecken auf der Karte ab. Da sie mich den ganzen Weg über begleitet hatte, schien es mir nur billig, sie zu beteiligen.
    Ich wiederholte meine Messungen über ein dutzendmal mit zittrigen Fingern, bis ich es endlich glaubte. Als ich ein Kind war, hatte ich gelernt, daß es unnütz sei, Rur um Wunder zu bitten, weil er den Weltendiskus vor Jahrtausenden geworfen habe und viel zu weit weg sei, um noch Wunder zu bewirken. Als ich älter wurde, erkannte ich, daß Rur deshalb keine Wunder wirkte, weil er das allergrößte bereits gewirkt hatte, als er die Welt erschuf. Es wäre für ihn nichts anderes, als wenn ich heutzutage immer noch eine Frau dadurch zu beeindrucken versuchte, daß ich einen lebendigen Käfer verschlänge, wie ich es als Junge tat. Doch jetzt bemerkte ich ein Wunder, wie es keiner von Rurs treuen Diener gewirkt haben konnte, wie nur er selbst es in einer einzigen grandiosen Geste vollbracht haben konnte!
    Ich sah auf die Karte und fragte mich, wie viele Betrachter vor mir auf diese oder eine ähnliche geschaut haben
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