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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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wenn Luftströme ihn ohne Mühe nach oben trugen, neigte er zur Nachdenklichkeit. Er stellte sich dann fast träumend vor, daß nicht er kreiste, sondern die Weltenscheibe unter ihm. Er wußte, daß es sich nicht so verhielt, aber er war sich nicht ganz sicher, denn etwas Seltsames hatte es auf sich mit der Welt: Je höher er stieg, desto kleiner wurde alles tief unten, nur eines nicht: das Weltenrund. Es schien immer gleich groß, und oft genug hatte er sich gefragt, wie hoch er wohl steigen müßte, um den Rand der Scheibe unter sich zu entdecken. Er war sich nicht sicher, daß es einen gab, aber vielleicht würde er es am Ende des Sommers wissen, noch bevor sich das Land verfärbte, noch bevor die Wälder erröteten, das Gras völlig gelb wurde und die Scheibe da unten sich in einen leuchtendroten Teppich mit gelben und schwarzen Sprenkeln verwandelte. Denn dort, wohin der nasse Wind zog, gab es einen Berg, höher als jeder andere, und schon lange hatte der Maran sich vorgenommen, den unfaßbar weiten Weg bis zu der geheimnisvollen weißen Spitze des Berges aufzusteigen – und vielleicht sogar darüber hinaus. Dort oben würde er das Geheimnis der Welt erkennen, er würde zurückkehren und allen Maranen und Wähen erzählen, wo der Rand der Weltenscheibe war. Ohne Bedeutung wäre dabei, daß er höher geflogen war als jeder und jede von ihnen, es würde nur zählen, daß er herausgefunden hatte, ob die Weltenscheibe endete. Und vielleicht würde er dabei auch erfahren, warum ihre Farbe im Herbst sosehr dem haarigen Kleid der Marasken glich.
    Er blinzelte zweimal verwirrt. Für einen Augenblick hatte er wirklich geglaubt, daß er still schwebte und die Welt sich statt seiner drehte. Ein verzeihlicher Irrtum, und schuld daran war das Gebaren der Menschen bei der einzelstehenden Zeder. Einer nach dem andern löste sich von der Gruppe, ging einige Schritte, wirbelte dann im Kreis, so lange, bis sich aus seiner Hand eine hölzerne Scheibe ebenfalls kreiselnd entfernte. Es war ein rätselhaftes, aber schönes Spiel, und es machte dem alten Vogel Freude, nacheinander mit seiner gesamten Aufmerksamkeit dem Rotieren der Holzscheiben, der Menschen oder der Welt zu folgen. In den Pausen zwischen den einzelnen Würfen rätselte er, warum die Menschen nicht gleichfalls wieder in großen Kreisen zu den Ihrigen zurückkehrten, was dieses Spiel vollkommen gemacht hätte, sondern statt dessen jeder in der Richtung weiterging, wohin seine Scheibe geflogen war, sei’s dorthin, wo die Sonne aufging oder unterging, sei’s dorthin, wo der feuchte Wind herwehte oder hinblies?
    Als die Gruppe schon fast auf die Hälfte zusammengeschrumpft war, fand er die Antwort. Es war so einfach: Bestimmt hatten sie dasselbe Ziel wie er, bestimmt suchten sie ebenfalls den Ort, wo die Welt endete. Wie hätte er auch ahnen können, daß das Gegenteil richtig war? Und selbst dann hätte es ihn wahrscheinlich in diesem Augenblick überhaupt nicht mehr interessiert, denn seine scharfen Augen erspähten etwas wesentlich Reizvolleres. Er stürzte sich in steilem Flug hinab.
    Xanjida bückte sich und hob den schweren Diskus aus dem kniehohen Gras. Sie fuhr mit der Hand durch das kurze graumelierte und stets wirre Haar, schaute in die Richtung, wohin er geflogen war und somit ihren weiteren Weg festgelegt hatte. Was sie sah, war enttäuschend. Nur um sich zu vergewissern, warf Xanjida einen Blick zur Sonne. Die letzten Zweifel verschwanden, ihr Weg würde sie genau nach Tuzak führen, der Stadt, von der sie und die anderen erst vor wenigen Stunden aufgebrochen waren. Also zurück nach Tuzak, seufzte sie, das hätte sie auch einfacher haben können! Jedoch hatten die Hochgeschwister des Tempels diesen Ort hier für den Beginn der Suche bestimmt, also hätte es schon seine Richtigkeit, daß sie hierhergekommen war und wieder zurückkehrte. Wahrscheinlich wäre der Marsch nach Tuzak ohnehin nur eine kleine Etappe auf ihrem Weg. Ein letztes Mal drehte sich die Priesterin zu den restlichen Achten um, um sich zu verabschieden. Allesamt winkten sie zurück. Perjin, der schlaksige Novize, fuchtelte dabei so wild mit beiden Armen, als hätte er gleich vor, wie ein Vogel abzuheben. Gerade noch rechtzeitig sprang seine Nachbarin zur Seite, denn um ein Haar hätte er ihr mit seinem unbändigen Geschlenker einen Nasenstüber versetzt. Lachend blieb die stämmige Brünette in sicherer Entfernung stehen und setzte dann ihrerseits zu einem noch überschwenglicheren Winken
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