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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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ihrem Abwasch hoch. Sie sah, wie Curma zum Herd ging, um das Feuer zu schüren, und dabei wortlos die alte Shalima zur Seite schob, die dort gerade hantiert hatte. Sie sah Sica, der auf einmal nicht mehr wußte, was ihn in die Küche geführt hatte, zur Tür hinaushuschen. Sie sah kurz Nestorio seinen Kopf hereinstrecken, der martialischen Frau einen unbeantworteten Gruß zunicken und wieder verschwinden. Sie sah die Frau auf der Tischkante mit der Tätowierung auf dem Arm, die ähnlich und doch völlig anders war als das Familienwappen auf ihrem Arm oder dem Arm von Curma, Shalima oder Nestorio. Sie sah diese kräftige Frau, die nur mit sich selbst beschäftigt kaute und die vielleicht nicht einmal wahrgenommen hatte, wer sich alles in der Küche aufhielt. Sie spürte, daß Curma recht gehabt hatte: Sie war gar nichts, über ihr stand Nestorio, darüber die Beschützerin, darüber standen die Herrschaften, und vielleicht anschließend, vielleicht auch noch etwas später kamen die Götter. So war die Welt, so war sie nun einmal.
     
    Den frühen Nachmittag verbrachte die Familie auf dem Dach des Hauses, das von einem niedrigen Mäuerchen mit roten Ziegelzinnen umrandet war. Leintücher waren zum Schutz gegen die Sonne gespannt worden, wenige Pfützen, die in der Hitze rasch kleiner wurden, zeugten vom mittäglichen Regenguß. In einem Rohrsessel, ein geöffnetes schmales Büchlein auf den Knien, saß Marno und döste. Ein Stück von ihm entfernt saß Imelde, zu ihren Füßen der kleine Diago, weiter abseits Thesares mit Porquinia und ihren Jungen. Das kleine Mädchen hatte sich einen Welpen geschnappt, streichelte ihn und kraulte ihn am Bauch. Ab und zu öffnete Porquinia träge eines ihrer Augen, um nachzusehen, ob auch alles seine Richtigkeit hatte.
    »Also noch einmal! Wie heißen die großen Familien?« fragte Imelde ihren Sohn. Wenig begeistert und lustlos, die Augen bei seiner Schwester und den Hunden, zählte der Junge auf: »Bonareth, Florios, Karinor, Kugres …« Er stockte und schaute hoch zu seiner Mutter.
    »Nun sag schon, Schätzchen, einer wird dir doch noch einfallen?« munterte sie ihn auf.
    Ratlos knabberte Diago an seiner Unterlippe, bis es fragend aus seinem Mund kam: »Honak?« – »Nein, mein Goldstück«, korrigierte Imelde, »die Honaks gehören nicht zu den acht Familien. Der Name ist zwar wichtig, denn der Patriarch ist ein Honak wie vor ihm sein Vater und Großvater, aber sie gehören nicht zu den acht Familien. Also noch einmal.«
    Während der Junge einen weiteren Versuch unternahm, die Namen der Mächtigen der Stadt zusammenzustammeln, dachte Imelde daran, wie schwierig es doch war, ihren Kindern etwas beizubringen. Sie wußte, daß sie ihnen keine gute Lehrerin war, zumal der Unterricht auch ihr keinerlei Freude bereitete. Doch irgendwann mußten die Kinder die wichtigen Dinge des Lebens erlernen, und ihr Vater war ein noch schlechterer Lehrer, da er schnell ungeduldig wurde. Sie seufzte: Welch eine Last!
    Imelde bemerkte, daß ihr Sohn verstummt war und sie jetzt erwartungsvoll anschaute. Ihr fiel auf, daß sie keine Ahnung hatte, was er zuletzt gesagt hatte, und da sie nicht zugeben wollte, daß sie mit ihren Gedanken woanders gewesen war, fragte sie ihn: »Sind das jetzt alle?« Mit einem listigen Aufblitzen in den Augen antwortete Diago: »Ja, Mutter, alle zwölf.«
    Imelde kniff ihn in die Nase: »Es sind aber insgesamt nur acht, mein Sternchen, also noch einmal.«
    Aus der Luke, die zur Stiege nach unten führte, tauchte Nestorios kahler Schädel auf. Als der bullige Mann ganz herausgeklettert war, blieb er regungslos stehen. »Was gibt es?« fragte Imelde. »Eine Depesche ist für dich abgegeben worden, Herrin«, antwortete er. Imelde winkte ihn heran, nahm das versiegelte und gefaltete Pergament entgegen und studierte die Aufschrift. Die Handschrift war ihr unbekannt. Sie erbrach das Siegel, faltete das Pergament auseinander und überflog die sauber geschriebenen Zeilen – bestimmt das Werk eines Schreibers – bis sie den Namenszug der Unterschrift fand.
    »Der Brief ist von Zor, Marno!« rief Imelde begeistert. »Er ist von Zor!«
    »Welchem Zor?« entgegnete ihr Mann.
    »Zordaphero Vuxphez! Erinnerst du dich nicht? Wie seltsam, noch heute morgen mußte ich an ihn und die anderen unserer alten Freunde denken! Zor, Zor, wie lange haben wir nichts mehr von ihm gehört!«
    »Zor, tatsächlich Zor?« fragte Marno nach und beugte sich neugierig aus seinem Sessel vor. Früher war
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