Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11
Autoren: Karl-Heinz Witzko
Vom Netzwerk:
Entführer Ishajids; beide waren immer noch ohnmächtig, beiden wünschte er: »Begegne der Schwester!« Dann durchschnitt er ihnen die Kehle.
    Er trat zu Ishajid. Ihr Handgelenk war völlig zerquetscht, weiße Knochensplitter stachen aus der Haut. Er wischte ihr die dunkelbraunen Zöpfchen aus dem Gesicht, betrachtete das wohlgeformte bleiche Antlitz. Die Lider, die die tiefblauen Augen bedeckten, zitterten leicht, als er sie berührte. Sie würde bald aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachen. Scheïjian tötete auch sie.
     
     
     

 
     
    Ich hatte es zwar jetzt nicht mehr eilig, es gab auch keinerlei Grund dazu, aber ich hatte den Drang, möglichst bald dieses Land zu verlassen. Da meine Reisevorräte erschöpft waren, streunte ich durch das Haus, in der Hoffnung, irgendwo einige Dukaten zu finden, zuerst vorsichtig, dann – als ich mir sicher war, der einzige Lebende darin zu sein – völlig unbekümmert. Es sah überall erbärmlich aus, in den düsteren Gängen, auf den brüchigen Stiegen, in den verstaubten Räumen, überall lag Mörtel am Boden, gab es Risse in den Wänden, war das Gebälk durchsetzt vom Schwamm.
    Endlich fand ich eine verschlossene Tür, die einzige im ganzen Haus. Da ich keine Lust hatte, einen Schlüssel oder ein Werkzeug zum Aufbrechen zu suchen, drückte ich die Finger mit dem bekannten Gefühl aus Ekel und Lust in das Türblatt, erfaßte das Schloß, zog es heraus und warf es fort. Hinter der Tür erwartete mich eine Überraschung, denn der Raum war tadellos aufgeräumt: Alles schien seinen vorgesehenen Platz zu haben.
    Mich machte der Sekretär neugierig. Er hatte etliche Schrammen, war aber frisch gewachst. Auf der Schreibplatte lag ein Zierdolch ohne Griff, daneben hing ein Kupferstich an der Wand, der das Haus zeigte, als seine Mauern noch nicht so rissig waren wie der Felsen von Tuzak. Es sah idyllisch aus, umgeben von sanften Hügeln und mit einer kleinen Ziegenherde davor. Sie schien das einzige zu sein, das die Zeit unbeschadet überdauert hatte, mit Ausnahme des Landes. Ich fragte mich, ob Tommelian – dessen Zimmer es war, wie ich später erfuhr – bisweilen davorgesessen und geträumt hatte.
    Bevor ich mit dem Zierdolch die Türchen und Fächer des Sekretärs aufbrach, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Ich entdeckte ihn nirgends, aber das hatte ich auch nicht ernsthaft erwartet. Er würde sich schon noch melden.
    In einem der Fächer fand ich tatsächlich einige Dukaten, dazu ausreichend, mir zu einer genügsamen Heimreise zu verhelfen. In einem anderen Fach, auf einem Stapel Papier, lag ein Medaillon. Man konnte es von beiden Seiten aufklappen und sah dann jeweils das Porträt eines Knaben – nicht desselben, doch sahen sich die beiden auffallend ähnlich: Tommelian und sein Bruder.
    Ich sah mir die Porträts lange an und fragte mich erneut, wie der Bruder wohl zur lebendigen Statue geworden war, ob infolge eines verunglückten Zaubers, eines Fluches oder vielleicht aus eigener Entscheidung. Möglicherweise hatte er sich, als sein Tag gekommen war, dagegen gewehrt, Borons Entscheidung zu folgen, und statt dessen dieses Nichtleben gewählt, nicht verstehend, daß er sich damit aus dem Kreis von Vergehen und Wiedererstehen ausschloß. Ich fragte mich, wie der Milde dieses freiwillige Abtrennen beurteilen würde, ob er das, was ich Tommelians sterbendem Bruder beigebracht hatte, als ausreichend ansähe oder ob seine ewig junge Schwester darauf bestünde, daß er im nächsten Leben lerne, wie schrecklich es ist, geschwisterlos zu sein. Sicherlich töricht, denn Tsa und Boron erfüllen beide nur Rurs Willen, den sie kennen – im Gegensatz zu uns.
    Auf den Zetteln standen Gedichte, vielleicht die schlechtesten, die ich jemals gelesen oder gehört hatte (ausgenommen jene Alryschas, die sie mir vorträgt, wenn sie mich quälen will), aber doch auf ihre Art von rührender Traurigkeit. Er war so ein Tropf gewesen und hatte sich an etwas gewagt, das er nicht übersehen konnte. Sein Gargylenbruder hatte ihn dazu getrieben, hatte ihn benutzt und hätte es weiterhin getan. Als belebte Statue war er allein hilflos gewesen, nicht nur aus den Gründen, die er mir erklärt hatte. Er konnte nicht einmal allein reisen, jedenfalls keine weiten Strecken, denn kein Schiff und keine Kutsche hätten ihn mitgenommen, und auch kein Reittier hätte ihn tragen können. Und als Statue wäre er kaum unbemerkt zu Fuß von Nostria nach Maraskan gelangt. Wenn man alles kannte, was zusammengehörte,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher