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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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entblößend.
    »Zeig mir den Berg!« befahl er und stampfte auf. Der Tritt ließ den Raum dröhnen und Stuckbrocken über den Boden tanzen.
    »Mein Leben dafür!« bettelte Scheïjian mit angstverzerrtem Gesicht.
    »Dein Leben?« Die Statue lachte. »Vergönnt, wenn du sprichst!«
    »Du wirst mich ausnutzen und betrügen, wie alle anderen!« zweifelte der Mensch.
    Die Statue antwortete abermals polternd: »Das habe ich nicht nötig, Wurm! Ich schenke dir ein Leben und sogar mehr, wenn du nützlich bist. Ich brauche jemanden wie dich, jetzt, da mein Bruder tot ist. Nicht notwendigerweise dich, nur jemanden, der mein Geheimnis teilt und für mich spricht. Unterwirf dich, und ich mache dich zu meinem Vogt! Entscheide dich!«
    Scheïjian warf sich vor ihm zu Boden und umklammerte die Füße des Wesens. Sie waren kalt und hart, wie Stein sein sollte. Unverrückbar stand der Gargyl auf diesen Säulenbeinen, gewichtiger als ein Ochse. Ein Tritt von ihm würde ausreichen, um dem vor ihm Kauernden den Rücken zu brechen.
    »Ich werde es für dich tun«, antwortete Scheïjian demütig.
    Die Statue sah zu ihm hinab. »Schwör es!«
    »Ich schwöre es.«
    »Schwör es bei dem, was dir am wichtigsten ist.«
    »Bei der Schönheit der Welt.«
    »Von mir aus.«
    »Herr!«
    »Was ist noch?« fragte der Gargyl unwillig.
    »Ich lüge oft«, antwortete Scheïjian und wirkte den Zauber.
     
    Es war der gleiche Beherrschungszauber, dessen Opfer Scheïjian in Kuslik gewesen war und der wie viele borbaradianische Sprüche verlangte, daß der Magier das Opfer berührte. Wie bei manch anderem Spruch hatten die gesprochenen Worte der Formel selbst keine Macht und dienten nur dazu, den Geist des Zaubernden einzustimmen und beim Lenken der astralen Kräfte zu unterstützen, vergleichbar einem Merkvers, mit dessen Hilfe man in manchen Gegenden den Kindern die Reihenfolge der Monate im Jahreskreis beibringt: Prachtvoll ritten ehedem tausend bärtige Helden … für Praios, Rondra, Efferd, Travia, Boron, Hesinde und so weiter, also mehr oder weniger beliebig. Daher brauchten Scheïjians Worte nicht dieselben zu sein, die der Beherrscher in Kuslik gesprochen hatte und die in der Sprache der Nichtmagier unzulänglich und platt mit ›Deine eigenen Ängste sollen dich quälen!‹ übersetzt werden können. Er benutzte andere, die er selbst passend gewählt hatte, tausendmal gnadenloser und von gleißender Unbarmherzigkeit: »Erkenne die Schönheit der Welt!«
    Er hatte nicht gewußt, was geschähe, doch gehofft, daß der Spruch eine Wirkung hätte, denn daran hatte sich der Magier endlich erinnert: Gargyle waren sehr empfänglich für Beherrschungszauber.
    Die Wirkung war befremdlich: Der Gargyl hob einen Fuß, setzte ihn dröhnend wieder auf, hob den anderen, dann wieder den einen. Das Heben und Senken der Füße wechselten immer schneller und gingen über in ein Trampeln. Das Stampfen versetzte den Raum derart in Schwingungen, daß das Mobiliar und die Körper der toten und lebenden Menschen hochgeworfen wurden und über den Boden schlitterten und hüpften, während Gipsbrocken und Staub von der Decke regneten. Aus Furcht davor, jeden Augenblick von dem Koloß zertrampelt zu werden, rollte sich Scheïjian weg. Urplötzlich hörten die Bewegungen der Statue auf. Sie stand starr, als hätte sie sich noch nie zuvor bewegt. Scheïjian wagte nicht, ein Lebenszeichen von sich zu geben, und fragte sich, ob die Wirkung des Zaubers nun verflogen sei, als die Statue den Mund öffnete. Ein erstauntes »Oh!« kam über die steinernen Lippen, ein scharfes Knacken war zu hören, und von einem Riß der Länge nach in zwei Teile gespalten, klappte der Gargyl auseinander. Seine Hälften fielen krachend zu Boden, wo sie in weitere Stücke zerbrachen.
    Scheïjian erhob sich. Er war fast taub und völlig eingestaubt. Niesend und hustend klopfte er sich ab, ging zu der Karte, entrollte sie, suchte die Umrisse Maraskans, studierte das Abbild seiner Insel, das in der Mitte fast völlig weiß war, da unbekannt, abgesehen von gelegentlichen Eintragungen einzelner Berge. Ishajid hatte recht gehabt, es mußte der Amran Thjemen sein. Er ließ die Karte fallen, dachte über die unerwartete Zerstörung nach, die der Spruch verursacht hatte, und nickte, als er eine Erklärung gefunden hatte, die ihn befriedigte: Weiches Fleisch kennt die Angst, harter Stein nicht. Der Gargyl hatte eine bewegende neue Erfahrung gemacht.
    Scheïjian trat von Wenzlas’ Base zu dem überlebenden
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