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Traveler - das Finale

Traveler - das Finale

Titel: Traveler - das Finale
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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stets wachsam. Niemals unsicher oder ängstlich.
    Nachdem sie etwa zwanzig Minuten lang gewandert war, hatte sie das westliche Ende der Insel erreicht. Der fortdauernde
Angriff der Wellen hatte Ausbuchtungen in den Sandstein gefressen, und fünf graue Felsfinger reckten sich ins kalte Meer hinaus. Alice betrat den größten und stellte sich an die Kante. Vom Nachbarfelsen trennte sie nur ein etwa zwei Meter breiter Abgrund. Sollte sie ausrutschen und abstürzen, würde sie in der Tiefe auf die spitzen Felsen in der tosenden Brandung aufschlagen.
    Der Abstand zwischen den beiden Felsfingern war nicht unüberwindlich, aber immerhin groß genug, um gefährlich zu sein. Alice hatte sich oft vorgestellt, was passieren würde, sollte ihr der Sprung einmal misslingen. Ihre Arme würden in der Luft rudern wie die Flügel eines angeschossenen Vogels. Sie würde einen letzten, kurzen Blick auf die Felsen erhaschen und die Brandung hören, bevor die Finsternis sie für immer einschließen würde.
    Über Alice’ Kopf kreiste ein Schwarm von Sturmtauchern, deren zittrige Schreie sie an ihre Einsamkeit erinnerten. Richtete sie ihren Blick auf die Inselmitte, konnte sie die Steinpyramide über Vickis Grab erkennen. Hollis Wilson hatte es ausgehoben und später wie im Wahn die Steine herangeschleppt. Er hatte sich geweigert zu sprechen, und nichts war zu hören gewesen außer der Schaufel, die er wütend in den steinigen Boden gerammt hatte.
    Alice drehte sich wieder um und starrte zum leeren Horizont. Sie könnte aufgeben und in die warme Küchenhütte zurückkehren, aber dann würde sie niemals erfahren, ob sie so mutig wie Maya war. Alice legte ihren Wanderstock neben ein Grasbüschel und rückte die beiden Messer zurecht, damit sie beim Sprung nicht verrutschten. Sie stellte sich an den äußersten Rand der Klippe und rechnete sich aus, dass sie vor dem Absprung etwa drei Meter Anlauf nehmen konnte.
    Tu es, sagte sie zu sich selbst . Du darfst nicht zögern. Sie ballte die Hände zu Fäusten, holte tief Luft und rannte los. An der Felskante hielt sie inne. Ihr linker Fuß hatte einen weißen
Kiesel in den Abgrund geschubst, der von den Wänden der Schlucht abprallte und in der Finsternis verschwand.
    »Feigling«, flüsterte sie und wich von der Kante zurück. »Du bist wirklich ein Feigling.« In dem Bewusstsein, klein und schwach und zwölf Jahre alt zu sein, hob sie den Kopf und starrte zu den Seevögeln hinauf, die sich in der Luftströmung in den Himmel schraubten.
    Als Alice ein paar Schritte zurückgegangen war, erkannte sie eine dunkle Gestalt, die über eine Felskante geklettert kam. Schwester Maura hatte gerötete Wangen und schnappte nach Luft. Der Wind zerrte an ihrem Schleier und an ihren Ärmeln.
    »Alice«, rief die Nonne, »ich bin nicht zufrieden mit dir, ganz und gar nicht zufrieden. Du hast deine Diagramme nicht gezeichnet, und Schwester Ruth sagt, du habest die Karotten noch nicht geschält. Zurück zur Hütte! Und trödel nicht. Du kennst die Regeln – gespielt wird erst, wenn alle Aufgaben erledigt sind.«
    Alice drehte sich um und konzentrierte sich auf eine rote Flechte auf der anderen Seite des Abgrunds. Ihre Körperhaltung musste Schwester Maura verraten haben, was sie vorhatte.
    »Stopp!«, rief die Nonne. »Du wirst dich umbringen! Du wirst …«
    Aber ihr Schrei ging im Wind unter, als die Kriegerprinzessin Anlauf nahm.
    Und sprang.

DREI
    H ollis Wilson transportierte seine neue Waffe in einem mit Zeitungen ausgestopften Gitarrenkoffer. Vor ein paar Wochen hatte er Winston Abosa gebeten, ihm eine Repetierbüchse zu besorgen, mit der auch ein hundert Meter entferntes Ziel genau getroffen werden konnte. Winston betrieb einen Trommelladen am Camden Market und hatte seine dortigen Kontakte bemüht, um an eine gestohlene Lee-Enfield zu kommen. Die ersten Lee-Enfields waren im Ersten Weltkrieg zum Einsatz gekommen; diese Nr. 4 Mark T mit Zielfernrohr war in den Dreißigerjahren entwickelt worden. Hollis plante, ein Mal zu schießen und die Waffe dann auf dem Dach liegen zu lassen.
    Auch wenn Hollis nur über die Straße schlenderte oder in der U-Bahn saß, zog er die Blicke der Londoner Polizisten auf sich. Selbst wenn er einen Anzug mit Krawatte trug, wirkte seine trotzige Körperhaltung einen Tick zu selbstbewusst. Aber der Gitarrenkoffer stellte die perfekte Tarnung dar. Am Eingang zur U-Bahn-Station Camden Town begegnete ihm eine Polizistin. Die junge Frau musterte ihn für eine Sekunde und
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