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Traumjaeger und Goldpfote

Traumjaeger und Goldpfote

Titel: Traumjaeger und Goldpfote
Autoren: Tad Williams
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der Jagd, die sie beherrschte. Sie unterwies und machte es vor und prüfte die Jungen; und sie wiederholte die Übungen immer wieder, bis die Jungen sie begriffen hatten.
    Gewiss wurde ihre Geduld oft auf die Probe gestellt, und zuweilen wurde eine verpatzte Übung mit einem scharfen Tatzenhieb auf die Nase des Übeltäters bestraft. Selbst für eine Mutter des Volkes gab es Grenzen der Zurückhaltung. Von allen Jungen Graswieges liebte Fritti das Lernen am meisten. Gleichwohl trug ihm seine Unaufmerksamkeit manchmal eine schmerzende Nase ein – besonders dann, wenn die Familie in die Felder und Wälder hinauszog.
    Das verlockende Pfeifen und Zirpen der
Fla-fa’az
und die wimmelnden, bedeutungsreichen Gerüche des Landes konnten ihn von einem Augenblick zum anderen in einen Tagtraum versetzen, und er sang sich etwas vor von Baumwipfeln und Windstößen in seinem Fell. Diese Träumereien wurden häufig durch den schnellen Schlag der Tatze seiner Mutter auf die Nase unterbrochen. Sie hatte Übung darin, diesen abwesenden Blick zu erkennen.
    Beim Volk waren Wachen und Träumen nicht haarscharf zu trennen. Obgleich die Katzen wussten, dass Traum-Mäuse echten Hunger nicht stillten und Traum-Kämpfe keine Wunden hinterließen, so war es doch unerlässlich in der wachen Welt, Kraft und Befreiung aus Träumen zu ziehen. Für das Volk hing sehr viel von ungreifbaren Dingen ab – von Gespür, Ahnungen, Gefühlen und Regungen –, und diese standen in so starkem Gegensatz zu den unverrückbaren Zwängen des Überlebens, dass Traum und Wirklichkeit einander bedurften und ein untrennbares Ganzes bildeten.
    Das ganze Volk hatte außerordentlich scharfe Sinne – durch diese lebten und starben die Katzen. Trotzdem wuchsen nur wenige heran, die Weitspürer –
Oel-var’iz
– wurden, und diese entwickelten ihre Scharfsinnigkeit und Empfindlichkeit bis zu einem Grade, dass selbst das hohe Mittelmaß des Volkes bei weitem übertroffen wurde.
    Fritti war ein großer Träumer, und eine Zeitlang hegte seine Mutter die Vorstellung, er verfüge vielleicht über diese Gabe desWeitspürens. Gelegentlich blitzte bei ihm eine überraschende Hellsichtigkeit auf. Einmal lockte er seinen ältesten Bruder durch Fauchen von einem hohen Baum herunter, und einen Augenblick später brach der Ast entzwei, auf dem sein Bruder gehockt hatte, und fiel zu Boden. Es gab noch andere Anzeichen seiner schärferen
Var
, doch im Laufe der Zeit, als er dem Kätzchenalter zu entwachsen begann, wurden solche Vorfälle seltener. Er neigte stärker der Zerstreutheit zu – wurde mehr ein Tagträumer und weniger ein Traumdeuter. Seine Mutter gelangte zu der Überzeugung, dass sie sich geirrt habe, und als die Zeit näher rückte, da Fritti seinen Namen bekommen sollte, vergaß sie diese Gedanken völlig. Das Leben einer Jagd-Mutter ließ es nicht zu, dass sie Hirngespinsten nachhing.
    Nach ihrem dritten Auge wurden die jungen Katzen zum ersten Treffen gebracht, um ihre Namen zu bekommen. Die Verleihung der Namen war eine Zeremonie von außerordentlicher Bedeutung. In den Liedern des Volkes hieß es, alle Katzen hätten drei Namen: den Herznamen, den Gesichtsnamen und den Schwanznamen. Den Herznamen erhielt das Kätzchen bei der Geburt von seiner Mutter. Es war ein Name aus der alten Sprache der Katzen, dem Höheren Gesang. Er durfte nur von den Geschwistern, engen Freunden und jenen benutzt werden, die am Ritual teilgenommen hatten. Fritti war ein solcher Name.
    Der Gesichtsname wurde der jungen Katze von den Älteren gegeben, wenn sie an ihrem ersten Treffen teilnahm, ein Name in der gemeinsamen Sprache aller warmblütigen Lebewesen, dem Gemeinsamen Gesang. Er konnte überall dort gebraucht werden, wo ein Name von Nutzen war.
    Was den Schwanznamen anging, glaubten die meisten aus dem Volk, dass alle Katzen mit ihm auf die Welt kämen; es kam bloß darauf an, ihn herauszufinden. Ihn zu entdecken, war eine sehr persönliche Sache. War es einmal gelungen, wurde nie darüber gesprochen, und er wurde niemandem mitgeteilt. Zumindeststand fest, dass einige aus dem Volk ihren Schwanznamen nie entdeckten und bei ihrem Tod nur die zwei anderen kannten. Viele sagten, dass eine Katze, die bei den Großen – den
M’an
– gelebt habe, völlig das Verlangen einbüße, ihn herauszufinden, und sich bequem in ihrer Unwissenheit einrichte. Die Schwanznamen des Volkes waren so wichtig, geheimnisumwittert und kostbar und man sprach so zurückhaltend über sie, dass es nicht viel
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