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Traeumer und Suender

Traeumer und Suender

Titel: Traeumer und Suender
Autoren: Matthias Goeritz
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kochten die Gemüter hoch, aber niemand konnte sagen, was eigentlich passiert war. Vermutungen waren höchsten für ein, zwei Ausgaben der Großpresse gut, für zwei, drei Talkshow-Runden. Dann wanderte die Geschichte auf die hinteren Seiten. Man brauchte Protagonisten. Tarantino war sofort nach Drehschluss abgereist; er hatte, abgesehen von einer kurzen, kryptischen Mitteilung, er sei eben ein sehr emotionaler Mensch und nicht besonders gut darin, auf Wiedersehen zu sagen, geschwiegen. Auch Erlenberg wusste sich abzuschotten. Und jetzt hatte ihn endlich jemand vor dem Mikrofon. Nein, nicht jemand. Er selbst. Er hatte ihn vor sich. In diesem zusammengefallenen Menschen, der da vor ihm saß, steckte eine Geschichte, die es wert wäre, erzählt zu werden. Da war er sich sicher. Mehrere Magazine hatten ihm eine Menge Geld angeboten, obszön viel, selbst für diese Branche. Einen Fotografen hatte er nicht mitbringen dürfen. Das hatte die Sekretärin in München ihm als Bedingung genannt. Sie hatte ihm eingeschärft, dass der alte Mann natürlich auf keinen Fall auf den «Vorfall», so die offizielle Sprachregelung, angesprochen werden dürfe, das sei ja auch selbstverständlich, hatte er geantwortet, insgeheim grinsend, denn ansprechen würde er ihn darauf nicht, aber das hieß ja noch lange nicht, dass der alte Mann die Geschichte nicht von sich aus erzählen würde. Wenn man ihn ließ. Und das würde er. Ihn erzählen lassen. Vertrauen schaffen. Ihm einen Platz für die Wahrheit anbieten. Selbst um das Aufnahmegerät hatte er kämpfen müssen, bis es ihm schließlich gelungen war, die Erlenberg-Crew zu überzeugen,dass er es lediglich als Erinnerungsstütze gebrauchen würde und als Hilfsmittel, damit überhaupt ein Gespräch in Gang kam. Ein Notizblock, ein Blatt Papier und ein Kugelschreiber zwischen ihnen, hatte er gesagt, das sei doch sehr künstlich. Da fühle er sich wie ein Sekretär. Und er hätte nicht tun können, was er am liebsten tat. Beobachten. Er nahm die geschnittene Kristallkaraffe mit dem frischen Orangensaft von dem Marmortisch und füllte sein Glas.
    Â«Verzeihen Sie, dass ich Ihnen nicht selbst einschenke, aber ich bin, wie Sie sehen, wirklich noch nicht wieder richtig auf den Beinen. Operationen steckt man in meinem Alter nicht mehr so einfach weg.»
    Höflich bot der Interviewer dem alten Mann ein Glas an, aber der lehnte ab, wie beim ersten Mal. Sie waren sich noch nicht wirklich nähergekommen in den fünfunddreißig Minuten, die der Interviewer jetzt schon im Kasten hatte, beziehungsweise auf dem Chip. Er konnte sich, obwohl er jung war und damit aufgewachsen, nicht an die Vorstellung gewöhnen, dass die menschliche Stimme, in Daten umgewandelt, auf so einem blauen Plastikding mit seinen miniaturisierten Platinen Platz finden konnte, wie in einem Käfig, dachte er dann, ausgestanzt. Aber es war Platz darauf, über acht Stunden, die er hier, heute mit diesem kranken Mann wohl nicht verbringen würde. Kein Tonträger, ein Speicher.
    Â«Bedienen Sie sich! Die Säure vertrage ich nicht mehr so gut. Wo waren wir? Ach ja. Für die meisten Filme bleibt sowieso nur die Direktvermarktung auf DVD oder die Endlosschleife auf Hotelkanälen, obskuren Fluglinien oder im Sonntagsprogramm. So sieht das aus. Es macht müde, wenn man daran denkt, was aus unserer Branche geworden ist.»
    Der Interviewer bemerkte die schlaffe Haut unter dem Kinn des alten Mannes, er wirkte ausgezehrt von der Krankheit. In Pressekreisen munkelte man allerlei über Krebs, aber niemand wusste etwas Genaues. Trotzdem war er, wie er dasaß, in seinem nachtblauen Anzug, mit der sorgsam gebundenen Krawatte und der weichen Decke um seine Beine, immer noch eine Macht, einer, mit dem zu rechnen war. Schlicht darum, weil er offensichtlich noch mit sich selbst rechnete. Der alte Mann räusperte sich leise, als wollte er sich vergewissern, dass er nun die volle Aufmerksamkeit seines Zuhörers und auch des eingebauten doppelten Mikrofons erhalten würde, sah den Interviewer mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue an und fuhr fort.
    Â«Und das ist ja noch nicht einmal alles. Jeder Film hat schon zahllose Schlachten hinter sich, bevor er in die Kinos kommt. Testvorführungen, Umschnitte, Nachdrehs. Und dann kommt das ganze Cocktailpartygedöns, wo man versucht, alle heiß zu machen, Stars, die nicht beim
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