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Traeumer und Suender

Traeumer und Suender

Titel: Traeumer und Suender
Autoren: Matthias Goeritz
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richtige Stimme. ‹Eine Welt, in der alles in Ordnung war …› Eine raue Erzählerstimme, eine Prophetenstimme, eine, die sagt: Ihr wisst, die Welt wird untergehen – die Frage ist bloß: Werden wir danach wiederauferstehen? So etwa. Das spricht unsere Angst an, ganz unmittelbar. Was hätte ich getan, in einer Zeit, in der mein Vater Nazi war oder Pole oder Jude, in der einfache Menschen gelebt haben, mit den gleichen Träumen von Glück und Unglück wie Sie jetzt und ich, alle beide? Diese Brücke müssen sie bauen, dieses Gefühl erzeugen, dass wir uns in Dinge hineinversetzen, die uns genauso hätten passieren können, nur ist der Rahmen größer, bombastischer. Und was könnte größer sein als der Krieg? Eine Zeit, in der jede Handlung plötzlich zählt. Ah, da kommt Ralph mit den Häppchen. Nehmen Sie, die sind sehr gut.»
    Ralph war ein Mann um die fünfzig, der einmal sehr gut ausgesehen haben musste. Blonde kurze Haare, immer noch kein bisschen verblasst, bis auf das Schläfengrau. Seine breiten Schultern, die in einem fein schimmernden lila Hemd gut zur Geltung kamen, schienen das schwere Silbertablett ganz allein vor sich herzutragen. Ralph wirkte wie ein Schiff, mit den angelegten Armen und den merkwürdigen weißen Butlerhandschuhen, die die Tablettgriffe umklammerten. Gischt oder Meeresschaum vor dem Bug derBrust, der Interviewer musste an einen Torso denken, wie war das doch gleich? Rilke?
… Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz … Sonst könnte nicht der Bug der Brust/ dich blenden, und im leisen Drehen/der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen/zu jener Mitte, die die Zeugung trug
. Er musste Ralph lange angestarrt haben, bevor er jetzt zugriff und sich ein «Häppchen» nahm, ein fein an den Kanten abgeschnittenes Käsetramezzino, mit Pesto und Paprika, jedenfalls lächelte der Apollo in Lila schamlos.
    Â«Sie haben mich gefragt, wie ich überhaupt zum Film gekommen bin. Das lag an meinem Vater. Ich war vier, als der Krieg für mich aufhörte, Fanfaren und Marschmusik zu sein. Meine Mutter war aus Trier; sie starb bei einem Bombenangriff. Danach schickte man mich zu ihrer Schwester, die hatten so eine Klitsche in Pommern mit lauter Apfelbäumen drumrum. Wir gingen immer ins Kino, meine Tante und ich, meist wegen der Wochenschauen. Dann flüsterte sie: ‹Das hat dein Papa gemacht.› Mein Vater war mit seiner Arriflex in Russland. Wo, das war geheim. Soldaten, glücklich grinsend, immer von links nach rechts, immer auf dem Vormarsch. Auch später noch. Rückzüge gab es nicht, Frontbegradigung hieß das. Oder Frontbereinigung. Bereinigt haben sie ihn dann auch, meinen Vater, Granateinschlag im Bogen von Orel, Splitter vom Kameraobjektiv direkt ins Auge, er trug dann eine Augenklappe, und mit dem Filmen war’s vorbei. Aber nicht mit dem Film. Er kam mit den Russen gut klar, die waren begeistert von seinem Wissen. Erst hat er in einer Wattefabrik arbeiten müssen, aber dann haben sie ihn nach Leningrad gebracht, an die Filmschule.
Montasch
, hat er immer gesagt, so heißt Schnitt auf Russisch. Und der Schnitt, der muss wehtun, der muss dir die Augen öffnen.
    Am Schneidetisch hat er denen gezeigt, was er von Eisensteingelernt hat; sie haben ihn dann zurückgeschickt in die DDR, da war ich ja auch, ist bei Klein gelandet und bei Kohlhaase in Babelsberg. Und ich war immer dabei. Wir wollten uns doch nie wieder aus den Augen verlieren. Und dann, als sie ihn nicht mehr wollten, hat er ein Kino aufgemacht. Russischer, polnischer, tschechischer Avantgardefilm, so hatte er sich gedacht, war nicht leicht ranzukommen damals, gelang ihm aber doch über alte Kontakte. Das haben die SED-ler allerdings nicht gerne gesehen, das war ihnen zu schwierig. Es hieß: Da sei keine Linie vorhanden, es ginge zu wenig um Parteilichkeit, das stecke fest im bürgerlichen Objektivismus. Da hat er gegrinst und seine Apollolichtspiele dichtgemacht, ’69 war das, gerade, als die Amerikaner vor ihren Hasselblads auf dem Mond rumgehopst sind. Wettlauf der Systeme. Apollo 14 steigt auf, und das kleine Kunstkino in der Karl-Marx-Allee verschwindet. Poetisch ein toller Kommentar zum Kalten Krieg aber persönlich gab es für uns keine Gerechtigkeit. Wir sind dann über seine Verbindungen raus und haben im Westen neu angefangen. Mich hat es da nicht lange gehalten in Deutschland West,
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