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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten
Autoren: Lidewij van Wilgen
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einen anderen Menschen aus ihm.
    Â»Vous venez me voir?« , sagt er verunsichert. »Natürlich«, sage ich, »ich habe die ganze Woche auf der Messe gestanden und wollte dir kurz Guten Tag sagen.«
    Bevor er mich bemerkt hatte, war ich langsam durch die Reihen gegangen, hatte gesehen, dass er immer die richtigen coursons wählt und sie konsequent auf die richtige Länge stutzt. Das alte Holz des Vorjahres ist kurz zurückgeschnitten, ein Zeichen der Sorgfalt, das einen guten Schnitt von einer oberflächlichen Arbeit unterscheidet.
    Er nimmt meine Komplimente zurückhaltend entgegen. Der stolze Mitarbeiter, dem man nichts zu sagen braucht. Schließlich aber entspannt er sich. Ein Funkeln, eine Lebendigkeit erscheint in seinen Augen, sodass ich vermute, dass man sogar mit ihm lachen kann, wenn man ihn besser kennt. Ich gebe ihm noch ein paar Anweisungen, dann gehe ich zurück ins Büro.
    Â»Wollt ihr mal einen richtig schleimigen Franzosen hören«, sage ich zu den Mädchen. » Votre cœur est-il-pris? Ist Ihr Herz schon vergeben?«, schreibt mir ein Journalist, den ich auf der Messe getroffen habe. Ich erinnere mich an einen kleinen Mann mit gewellten Haaren, der etwas zu oft an meinem Stand vorbeikam. Ich schreibe eine freundliche, aber entmutigende Antwort und kehre zu meiner Arbeit zurück.
    In den kommenden Wochen schreibt der Journalist mir immer wieder. Er wird langsam zu einer fiktiven Person, die kaum noch etwas mit dem Menschen zu tun hat, dem ich in der Wirklichkeit begegnet bin. So alleine in meinem Büro fange ich an, seine Mails zu schätzen. Er ist unterhaltsam, erzählt mir von den phantastischen Grand Crus , die er täglich probiert. Meine Liebe zum Wein wird zu meinem Verhängnis, als er mich eines Tages einlädt, mit ihm zu einer Verkostung zu gehen, sage ich nicht nein. Ich rufe Anne in Paris an, frage, ob ich bei ihr übernachten kann, und glaube, dass alles geregelt ist.
    Als ich von ihrem Apartment in der Rue de Lyon aus die Straße entlanglaufe, steht er auf einmal in eigener Person da: ein kleiner Mann vor einem schwarzen Auto. Er weicht in jeder Beziehung von dem ab, was ich attraktiv finde. Aber nach etlichen Worten, die wir bereits miteinander gewechselt haben, meine ich, keine Wahl zu haben, und steige in sein Auto.
    Auf einmal entwickeln sich die Dinge sehr schnell. Der Journalist besucht das Weingut, zwei Wochen später ist er wieder da. Jedes Mal, wenn er weggeht, liegt ein neues Hemd in dem Schrank, der einmal Aad gehört hat. »Du hast viel zu viel zu tun«, sagt er, »komm, ich mache die Einkäufe für dich.« Ich genieße es, dass jemand da ist, der für mich sorgt, es schmeichelt mir, dass er so verliebt zu sein scheint. Es gibt Dinge, die mich stutzig machen sollten. Warum bekommt er einen Wutanfall, als ich mit meinem englischen Importeur die Weinfelder besichtigen will? Warum muss ich Französisch sprechen, wenn ich mit zehn Amerikanern am Tisch sitze? Warum will er nicht, dass ich meine Freunde besuche? Er kritisiert den Garten, die Tierhaltung, wirft mir vor, dass ich das Weingut nicht mit ihm teilen will. Vielleicht bin ich einfach müde oder ist in den letzten Jahren zu viel geschehen? Nach und nach beginne ich, mich ihm anzupassen.
    Â»Ich habe großen Einfluss«, sagt er, »ich habe Beziehungen zu Kreisen, in die du sonst nie kommen würdest. Ich kann Artikel über dich schreiben.« Während ich noch darüber nachdenke, ob ich das alles wirklich will, sagt er: »Ohne mich wirst du nie Erfolg haben.«
    Jetzt sitze ich nicht mehr auf einem Stück Karton vor dem Weinkeller, sondern an Tischen, die mit weißem Damast und üppigen Blumensträußen gedeckt sind. An einem Tisch könnten 100 Stühle Platz finden. Das einfache Naturleben von Pierre ist auf einmal in weite Ferne gerückt. Ich schaue in die Menükarte, auf die jemand von Hand meinen Namen geschrieben hat – darin die 15 besten Grand Crus aus Saint-Emilion, die wir probieren werden, sie tragen Jahreszahlen zwischen 1959 und 2000. Noch besser als die vertikale Verkostung von Cheval Blanc und Yquiem gestern Abend. Ich lächle den Journalisten an, der mir fast verborgen hinter einem Blumenstrauß gegenübersitzt, sein Leihsmoking ist ein wenig breiter als er selbst. Trotz des Drucks, den er mir macht, eines ist sicher: Ich habe in den letzten Monaten besser verkosten gelernt als je
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