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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte
Autoren: M. R. Hall
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mir Sorgen und fragte Silverman, was mit Nazim geschehen würde. Er antwortete nicht, sondern sagte nur, ich solle ihm weiterhin berichten.
    Mitte Juni war ich selbst davon überzeugt, dass Nazim in eine terroristische Verschwörung verwickelt war. Dann aber passierte etwas, das mich meine Meinung wieder ändern ließ. Aus heiterem Himmel sprach er mich auf dem Flur an – ich glaube, es war am 24. Juni. Er sagte, es tue ihm leid, dass er mich so schlecht behandelt habe. Seine Stimmung war komplett umgeschlagen. Zum ersten Mal seit Wochen sah ich ihn lächeln. Ich fragte ihn, ob es ihm gut gehe. Er sagte, alles sei bestens. Dann berührte er meine Hand und ging fort. Wir haben nie wieder miteinander gesprochen.
    Am Samstag, den 29. Juni 2002, rief Silverman mich an und erklärte, er würde mich vor Goldney Hall abholen. Er fuhr mit mir bis zu den Bristol Downs und überreichte mir einen Umschlag mit fünftausend Pfund. Dann erzählte er mir, dass Nazim und Rafi verhaftet worden seien – von wem, sagte er nicht – und ich mit niemandem über die Sache sprechen dürfe. Gedroht hat er mir nicht, aber das war auch nicht nötig. Sein Verhalten war absolut ausreichend.
    Ungefähr eine Woche später rief er mich dann noch einmal an. Ich solle zur Polizei gehen und sagen, dass ich in der Mensa ein Gespräch mitbekommen hätte, in dem Nazim und seine Freunde darüber gesprochen hätten, zum Kämpfen nach Afghanistan zu gehen. Er sagte, ich solle mich auf eine kurze Aussage beschränken. Ich habe mich nicht getraut, mich zu weigern.
    Ende Juli hat er mich erneut kontaktiert. Er sagte, er würde das Land verlassen, um im Ausland zu arbeiten, aber sein Versprechen würde er in jedem Fall halten. Im ersten Trimester des dritten Studienjahrs wurde mir ein Bewerbungsformular für ein Stipendium für Harvard zugeschickt. Meine Bewerbung war erfolgreich. Ich habe drei Jahre dort studiert und im Jahr 2007 mit der Promotion abgeschlossen.
    Was mit Nazim Jamal und Rafi Hassan passiert ist, weiß ich nicht. Aus dem wenigen, was Silverman mir erzählt hat, bekam ich den Eindruck, dass sie von den Geheimdiensten verhaftet worden waren. Als ich dann mehr über die politische Lage erfuhr, kam mir die Idee, dass sie möglicherweise von US-amerikanischen Behörden in Gewahrsam genommen und ins Ausland ge bracht worden sein könnten. Dafür habe ich allerdings keine Beweise.
    Jetzt befinde ich mich in Schutzhaft der britischen Geheimdienste. Diese Aussage mache ich aus freiem Willen und bekomme keine Belohnung oder Vergünstigungen dafür.
    Khan sprang auf.
    »Ma’am«, sagte er mit einem ungläubigen Ausdruck. »Schlagen Sie ernsthaft vor, dass der Inhalt dieser Aussage niemandem außer den engsten Angehörigen der Verstorbenen zugänglich gemacht werden soll? Wenn das, was Dr. Levin schreibt, wahr ist, dann lässt sich das Ausmaß der Korruption dahinter gar nicht in Worte fassen.«
    Collins, der neben ihm saß, nickte zustimmend. Havilland rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Martha Denton hatte eine distanzierte Miene aufgesetzt.
    »Ich schlage überhaupt nichts vor, Mr. Khan. Wie sich jeder Einzelne von uns verhalten würde, setzte man ihm die Pistole auf die Brust, ist eine Frage des persönlichen Gewissens.«
    Khan gab nicht auf. »Ich weigere mich, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ich werde alles tun, damit das, was wir soeben gehört haben, öffentlich gemacht wird.«
    Jenny spürte, dass die Blicke von Golder, Rhys und Moreton auf ihr ruhten. Die Mauer des Schweigens, die man um ihre Untersuchung errichtet hatte, würde niemals eingerissen werden, das wurde ihr jetzt klar. Jeder Fernseh- oder Zeitungsredakteur, der sich der Anweisung widersetzen würde, hätte mit sofortiger Inhaftierung zu rechnen. Wenn Khan die Geschichte herumerzählen wollte, musste er sich mit Megafon und Apfelsinenkiste oder mit irgendeiner obskuren Nische im Internet zufriedengeben. Er würde mit Spinnern undVerschwörungstheoretikern um die Gunst des Publikums buhlen müssen.
    »Tun Sie, was Sie für richtig halten, Mr. Khan«, sagte Jenny und begann ihre Zusammenfassung für die Jury.
    Die Anspannung hatte längst wieder nachgelassen, als das Urteil der ungesetzlichen Tötung gefällt wurde. Niemand hatte das Gefühl, dass im Namen der Gerechtigkeit ein Sieg errungen worden war. Niemand spürte die Befriedigung, dass nun der wartenden Welt die Wahrheit präsentiert werden würde. Stattdessen herrschte eine schuldbewusste Ruhe, weil jeder im
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