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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen
Autoren: Klaus Frank
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überrascht, dass sie ein Gesprächsthema zwischen Dean und dieser alten Frau gewesen war. „Er war hier? Bei Ihnen?“
    „Heute. Heute morgen, kurz bevor die Arbeiter erschienen. Er ist ein guter Junge.“
    Scheinbar nicht, dachte Nicole, sonst hätte er nicht zugelassen, dass die Frau im Haus geblieben war. „Sie müssen raus hier!“
    „Ich bleibe!“, entgegnete Beth mit einer Kraft, die aus einem vitaleren Körper zu stammen schien. „Dieses Haus war mein Leben lang meine Heimat, und nun wird es mein Grab werden.“
    „Wo ist Dean jetzt?“, fragte Nicole, sie konnte Verzweiflung in ihrer Stimme hören. Vielleicht konnte er Beth zur Besinnung bringen. „Warum hat er Sie im Stich gelassen, wo er doch heute morgen noch bei Ihnen war?“
    „Er hat mich nicht im Stich gelassen, das hat er niemals getan. Er hat dafür gesorgt, dass die Bauarbeiter, die hereinkamen und alles durchsuchten, mich nicht fanden.“ Sie musterte Nicole einen Moment lang verschmitzt, dann voller Nachdenklichkeit. „Es ist schade, dass Sie ihn nicht näher kennen lernen konnten.“
    „Das kann ich ja immer noch nachholen, sobald ich Sie hier rausgebracht habe, meinen Sie nicht auch?“
    Was die Frau sagte, versickerte im Lärm, der über ihren Köpfen erklang, und sie musste sich wiederholen. „Nein, das können Sie nicht.“ Und dann, voller Traurigkeit, sagte sie: „Er hat mich nie im Stich gelassen. Verstehen Sie?“
    Nein , wollte Nicole sagen, ich verstehe nicht . Aber da war dieser Ausdruck im zerfurchten Gesicht der Frau, der sie veranlasste, nichts zu entgegnen. Ein geheimnisvolles Knistern drang aus den Wänden des geschundenen Hauses, und vor ihrem geistigen Auge sah Nicole ein wirres Muster aus Rissen, die das Gemäuer erkundeten und von oben nach unten jagten.
    „Er ist oben“, sagte Beth. „Tot.“
    Oben. Tot. Nicole starrte die Alte an, die ihren Blick ruhig erwiderte. So beiläufig konnte doch niemand über einen Menschen reden; Paul offenbarte mehr Erregung, wenn er einen Fleck auf seinen teuren Schuhen erspähte. Nicole schüttelte den Kopf und lauschte dem Raunen aus purer Entrüstung, das in ihm steckte.
    Oben, tot.
    Und dann wieder eine Erschütterung, und das Fundament des Hauses erbebte unter ihren Füßen. Mit lautem Knirschen brach der hölzerne Türrahmen, und die Tür sprang aus ihrer Halterung und fiel aufsplitternd in den Raum hinein. Nur einen Augenblick später zerplatzten die Fensterscheiben; ein kurzer Schauer aus funkelnden Scherben jagte ins Zimmer. Manche ritzten eine schmerzhafte Botschaft in Nicoles Haut. Putz und kleine Mörtelbrocken fielen von der Decke herab. Nicole wusste, dass sie mit jeder Sekunde, die verstrich, ihr größerer Gefahr war, aber sie dachte nur an ein Leben, welches bereits erloschen war. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die stählerne Abrissbirne auf den zuckenden Leichnam herabfallen, immer wieder herabfallen, bis der Körper, den sie vor zwei Tagen noch in ihren Armen gehalten hatte, zu einer formlosen Masse aus zerrissenem, blutigem Fleisch reduziert war. Sie sah, wie sein heißes Blut in die staubige Matratze eindrang und wie die Stahlkugel die warme Tönung eines Sonnenuntergangs annahm. Sie konnte den roten Staub riechen und Deans offene Gedärme. Das Bild war Furcht erregend konkret, und der Preis für ihr Überleben würde sein, dass sie ihre restlichen Tage immer wieder daran denken musste.
    Beth trat auf Nicole zu und legte ihr in einer tröstenden Geste einen Arm auf die Schulter. Das Gesicht der alten Frau war bleich und eine dünne Schicht aus weißem Staub hatte sich auf das Fleisch gelegt; ein vorweggenommenes Leichentuch. Aber sie war imstande, Nicole ein Lächeln zu schenken. „Ich sehe, wie weh es dir tut“, sagte sie leise. „Dean hat es so gewollt, es war seine Entscheidung. Nichts ändert sich durch seinen Tod, der Lauf der Welt gerät nicht um ein Jota ins Stocken. Es gab keinen Menschen auf der Erde, den er lieben konnte, also hat er das Haus geliebt. Vielleicht wäre er zu einer Umkehr bereit gewesen, wenn du ihm früher begegnest wärst. Vielleicht hätte er stattdessen dich lieben können.“
    Das war zuviel: Nicole spürte, wie tief in ihr der Ausbruch begann, es war ein brodelndes Feuer, für einen Moment war jegliches Gefühl in ihr ausgelöscht mit Ausnahme grenzenloser Trauer. Sie trauerte um einen Menschen, den sie nicht lieben konnte, weil ihr die Zeit dazu gefehlt hatte, und sie trauerte um sich, weil sie spürte, dass sie dieses
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