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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen
Autoren: Klaus Frank
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verstehen, denn dieses Zuhause war ohne Vorbehalte.
    „Manchmal komme ich her“, unterbrach Deans Stimme ihre Gedanken.
    „Warum nur manchmal?“ Warum lebte man hier nicht ewig?
    Dean schaute ihr ins Gesicht, zum erstenmal, seit sie oben angelangt waren. „Ich wohne ein paar Blocks weiter, und das schon seit einigen Jahren. Ich habe dort meine Arbeit. Allenfalls in den Sommermonaten komme ich für eine Weile her. Ansonsten schau ich nur, dass der Schimmel nicht zu gefräßig und das Dach dicht ist.“
    „Es ist schön“, sagte sie. Sie überlegte, wann sie dies zum letzten Mal gesagt und tatsächlich so gemeint hatte – wahre Worte für eine wahre Schönheit -, aber sie konnte sich nicht erinnern. Sicher nicht, seit sie an Pauls Seite lebte.
    „Ja, wirklich?“, fragte Dean freudestrahlend. „Findest du das?“
    Nicole wiederholte ihre Bemerkung mit Nachdruck.
    „Ist es auch“, sagte Dean. „Aber das ist noch nicht alles. Du solltest einmal eine Nacht hier verbringen.“ Die offenkundige Zweideutigkeit seines Vorschlags fiel ihm nach einem kurzen Stutzen auf und verschlug ihm einen Moment lang die Stimme. „Ich meine...“ Der Rest verpuffte zu Gestammel, und er schaute Nicole hilflos und errötend an.
    Sie war um Ernsthaftigkeit bemüht, was ihr Mühe bereitete. „Ich weiß, was du meinst.“
    „Tatsächlich?“
    „Was erlebe ich, wenn ich eine Nacht hier verbringe?“, sagte sie. „Darauf wolltest du doch hinaus?“
    Dean fischte seine Zigaretten wieder hervor und nickte. Er hielt ihr die Packung hin.
    „Nein, danke.“
    Täuschte sie sich, oder hatte Dean tatsächlich eine Möglichkeit gefunden, wie er mit Hilfe einer Feuerzeugflamme die Vorzüge seines ohnehin hübschen Gesichts in noch positiverem Licht präsentieren konnte? Die Flamme spiegelte sich stecknadelklein in seinen Augen wider, und die Höhlen seiner Nasenlöcher leuchteten im flackernden Orangerot. Nicole lächelte über seine Bemühungen. Er tat es ihretwegen, und sie fühlte sich geschmeichelt.
    „Was ist so lustig?“, erkundigte er sich.
    „Nichts“, antwortete sie. „Gar nichts.“
    „Du hast gelächelt.“
    „Grundlos.“
    „Wirklich?“
    „Aber ja. Darf ich nicht lächeln, wenn mir danach zumute ist?“ Nicole war entschlossen, das Geheimnis zu wahren.
    Das spürte auch Dean. „Doch; lächle ruhig.“
    „Danke für deine Gönnerschaft“, spottete sie. „Aber du wolltest mir etwas sagen.“
    „Weshalb ich herkomme, ja. Hast du schon einmal das Gefühl erlebt, jemand anders zu sein? Weniger du selbst. Oder mehr. Ja, mehr. Mehr du selbst. Mehr Seele; mehr Geist. Mehr göttliche Annäherung, oder wie die Spinner und Theologen das nennen würden.“
    „Mit dem Christentum auf Kriegspfad?“
    „Ach.“ Dean schaute empor zum Rauch, der über ihren Köpfen einen unruhigen Heiligenschein bildete. Das schien ihm zu denken zu geben, denn er blies eine Salve seines Atems hinauf, bis aus dem Heiligenschein Unsinn wurde. Dann drückte er die Zigarette in einem Aschenbecher aus. „Unwichtig jetzt. Sag mir: Kennst du ein solches Gefühl? Jemand zu sein, der scheinbar alle Probleme bewältigen kann? Als... als...“ Er verstummte, suchte einen Moment lang den rechten Ausdruck. „Als seiest du etwas Besonderes?“
    Nicole dachte darüber nach. Seine Äußerung weckte eine Erinnerung in ihr, die jedoch so vage war, dass sie sich ihrer nicht sicher sein konnte. „Ich glaube nicht.“
    „Zuerst dachte ich, ich käme nur der Erinnerungen wegen immer wieder her, die meine Kindheit ausmachten, der guten alten Zeit wegen. Aber das stimmte nicht. Es ist dieses Gefühl. Das erlebe ich nur in diesem Raum; nirgends sonst. Manchmal denke ich, es liegt am Haus, aber ich weiß es nicht. Es ist so schwer zu erklären, wenn man die Ursache nicht kennt.“ Dean schaute sie an, und sein Gesicht zeigte Besorgnis. Pulsschlag oder Erregung tanzte auf seinen Lippen. „Glaubst du mir?“
    „Vielleicht.“
    „Und wann ist es sicher?“
    „Wäre ich nicht verheiratet, wäre es ganz einfach: Ich müsste eine Nacht hier verbringen. Vielleicht wäre es dann sicher.“ Nicole zuckte mit den Achseln. „Aber leider...“ Sie schrak vor sich selbst zurück, als sie ihrer Äußerung nachspürte. Aber leider : Jetzt war es heraus. „Es geht nicht“, murmelte sie schwach.
    Dean zerpflückte die Distanz zwischen ihnen mit zwei großen Schritten und nahm sie in den Arm. Nicole fühlte, dass sein T-Shirt nass von Schweiß war. „Es ist in Ordnung“,
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