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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen
Autoren: Klaus Frank
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hörte sie ihn flüstern, kaum lauter als ein Windhauch.
    Seine Berührungen waren intimer, als für eine Umarmung nötig gewesen wäre, aber Nicole genoss jede noch so beiläufige Annäherung und wich nicht zurück. Der Mann, der sie hielt, war stark, und sein Griff war manchmal schmerzhaft und das Gegenteil der Schlaffheit, mit der Paul sie hielt. Ihr Mann war ein lästiger Störenfried in ihren aufgewühlten Gedanken, und um ihm den Garaus zu machen, wagte sie den nächsten Schritt. Sie drängte sich näher an Dean heran und wandte ihr Gesicht dem seinen zu und gab ihm einen Kuss. Er war flüchtig und kurz, aber schon der nächste Kuss war ein kraftvollerer Bruder. Es gefiel Nicole auf obszöne Art, eine ganz und gar fremde Zunge in ihrem Schlund zu spüren. Ihre Hand fuhr unter sein T-Shirt und ertastete seinen schweißnassen Rücken. Sie fuhr die Wölbungen der Muskeln hinauf, die beachtlicher waren, als sie vermutet hatte.
    Als sie sich von Dean freimachte, war sie außer Atem, und sie fühlte ihr Blut wie einen heißen Strom durch ihren Körper fließen. Das Fundament ihrer Selbstbeherrschung war plötzlich baufälliger als dieses Haus, und sie wusste, dass Dean es ihrem verschwitzten Gesicht ansah. Wie einfach es nun wäre, den dummen Verstand in Ketten zu legen und die Instinkte das tun zu lassen, was er für richtig hielt. Aber ihr Geist war immer schon ein mächtiger Gegner gewesen; selbst wenn er vor Lust ächzte, geriet er nicht ins Wanken. Sie sehnte einen Ort herbei, an dem sie in aller Ruhe nachdenken konnte; sie musste herausfinden, was sie wirklich wollte.
    „Hör zu“, sagte sie leise, immer noch ein wenig atemlos, „ich muss nun gehen, es ist schon spät...“
    „Und dein Mann wartet?“
    „Ich hoffe doch, dass er es tut.“
    Dean streichelte sanft ihre Oberarme, und Nicole musste ein Seufzen unterdrücken. „Ich begleite dich nach unten.“
    Sie schlenderten langsam und schweigend aus der Wohnung und fanden sich vor dem Haus in einer gleißenden, hinfälligen Welt wieder; sie schien eine gänzlich andere zu sein, wie Nicole überrascht feststellte, als sie sich mit schmerzenden und zusammengekniffenen Augen umschaute.
    Ihr Abschied fiel gelassener aus, als Nicole es vermutet – oder befürchtet – hätte. Später am Tag bedauerte sie diese Reserviertheit, und sie nahm sich vor, sie mit umso größerer Begeisterung beim nächsten Wiedersehen auszugleichen. Auf ihrem Weg ins Hotel entsann sie sich lächelnd Deans letzter Worte: „Ich werde auf dich warten!“

    Und dennoch dauerte es zwei Tage, bis Nicole den Mut fand, in die Line Street zurückzukehren, und zu ihrer großen Bestürzung kam sie zu spät. Vor dem Haus standen schwere Baufahrzeuge, und ein von einem schwitzenden Mann bedienter, laut und angestrengt dröhnender Kran ließ unentwegt eine Abrissbirne auf das alte Haus mit der Nummer 47 niederprallen. Starr vor Schreck stand Nicole dabei und schaute zu, und es fiel ihr schwer, eine Erklärung für das zu finden, was ihre Augen sahen. Es war nur ein Haus, aber es kam ihr wie eine barbarische Hinrichtung vor. Die Abrissbirne hatte längst das oberste Geschoss zermalmt und damit Deans Heimat. All die Erinnerungen und Träume, die er besaß – sie lagen nun unter einem Leichentuch aus Schutt und Staub. Nicole wurde sich ihrer Tränen erst bewusst, als sie erstaunte Blicke vereinzelter Bauarbeiter wahrnahm, die in der Nähe standen und in der Sonne dösten.
    Hatte Dean ihr den Termin des Abrisses genannt? Nicole konnte sich nicht daran erinnern, und sie fragte sich, warum er ihr das verschwiegen hatte. Ihm musste doch klar sein, dass mit dem Verschwinden des Hauses auch die Möglichkeit eines Wiedersehens dahinschwand. Das konnte nicht seine Absicht gewesen sein. Es war soviel Wärme zwischen ihnen gewesen – Küsse und Worte -, dass der Weg nun nicht einfach so ins Nichts führen konnte.
    Das gnadenlose Dröhnen der Baumaschinen zerrte an Nicoles Nerven, und sie war nahe dran, den Arbeitern entgegenzuschreien, dass sie aufhören sollten.
    Hier war Dean nicht, auch unter den wenigen Schaulustigen, die in der Nähe standen, fand sie ihn nicht. Aber vielleicht hatte er ein Zeichen hinterlassen? Das war plötzlich so naheliegend, dass Nicole sich insgeheim wegen ihrer Langsamkeit verfluchte. Sie ließ ihren Blick an der Hausfront entlanggleiten. Wogen aus dichten Staubwolken, die vom herunterprasselnden Schutt aufgewirbelt wurden, und die großen Baumaschinen erschwerten ihren
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