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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen
Autoren: Klaus Frank
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sterben, aber dazu dürfte ihr die Zeit fehlen, wenn ihr niemand dabei hilft.“
    „Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Nicole erschrocken. Das Schicksal der alten Frau klang bedrückend, doch sie ahnte, dass nur der Kern der Geschichte zutreffend sein mochte, und alles Schlimme im Laufe der Zeit hinzugedichtet worden war. Am Ende handelte es sich bloß um eine alte, gehbehinderte Frau, die einige Straßenzüge von hier entfernt glücklich im Schoß ihrer Familie lebte.
    „Sie glauben mir nicht, das seh´ ich Ihrer Nasenspitze an“, sagte der Mann, aber er wirkte nicht so, als sei der Mangel an Glaubwürdigkeit ärgerlich für ihn.
    „Ich glaube Ihnen.“
    „Hm.“ Er kramte eine zerknautschte Zigarettenpackung aus seiner Hosentasche und hielt sie ihr unter die Nase. „Wollen Sie eine?“
    Nicole zupfte eine Zigarette heraus, die krumm und knittrig war. „Danke. Haben Sie Feuer?“
    Der Mann nickte und gab ihr welches. Dabei berührten sich ihre Hände. Nicole bemerkte aufgrund des kurzen, knapp einen Atemzug dauernden Tastens, wie kalt ihre Finger waren, trotz der Hitze.
    „Frieren Sie etwa?“
    „Nein“, antwortete sie, „nein, ich glaube nicht.“
    „Übrigens, ich heiß´ Dean. Dean Borton.“
    „Nicole.“
    „Nicki?“ Dean lachte und hustete, als er sich am Rauch verschluckte. „Nennt man Sie so?“
    „Nein, eigentlich nicht.“
    „Für meinen Namen gibt's keine Abkürzung. Und wozu auch?“ Er lachte heftiger, ein hell klingendes Schnarren. Es wurde vom hin- und herschwingenden Echo eingeholt. Plötzlich wurde er wieder ernst. „Wenn Sie niemanden suchen; was treiben Sie dann hier? Sie brauchen doch wohl keine Wohnung? Oder gehören Sie zu den Baulöwen?“ Dean mochte diese Leute nicht, seine mühsam beherrschte Stimme verriet den Zorn, den er verspürte.
    „Weder noch“, beruhigte Nicole ihn.
    „Sondern?“
    „Ich interessiere mich für Häuser.“ Sie vermutete, dass ihn das erneut zum Lachen reizte, aber sie irrte sich.
    „Für Häuser interessieren Sie sich? Warum?“
    „Warum denn nicht? Jeder hat seine Macke, und ich habe diese.“
    Er murmelte wieder sein „Hm“ und schaute mit gerunzelter Stirn auf die Zigarette in seiner Hand. Dann hellte sich seine Miene auf. „Gehen wir rein?“
    „Rein?“
    „Ja. Oder interessieren Sie sich nur fürs Äußere?“
    Diese Zweideutigkeit verschlug ihr für einen Moment die Sprache. „Wir können doch nicht einfach eindringen.“
    „Selbstverständlich.“ Dean grinste unverschämt. „Wenn wir durch die Tür treten, ist es ganz einfach.“
    Nicole hatte nie das Verlangen verspürt, ein Haus, das sie betrachtete, auch zu betreten. Sie verließ sich immer nur auf ihre Phantasie. Vielleicht war es die Angst vor der Enttäuschung, die sie abhielt, oder die mit Staub und Spinnweben ausgefüllte Leere. Aber nun schien es, als hätte Deans Aufforderung ein unbekanntes Verlangen geweckt, und ihre bisherige Weigerung kam ihr nun dumm vor.
    „Wie steht es mit Ihren Einbrecherkünsten?“, erkundigte sie sich mit strahlendem Lächeln.
    „Die brauche ich nicht. Die Tür hat kein Schloss mehr.“

    Dean behielt recht; man konnte die Tür aufdrücken. Der Gang hinter ihr offenbarte außer Dunkelheit und Staub noch den unangenehmen Geruch faulig-feuchter Luft, die sich auf die Schleimhäute legte. Sie befanden sich in einem bedauernswerten Geschöpf; die Verwahrlosung, die Nicole sah, wollte kein Ende nehmen. Sie stiegen Treppen mit brüchigem Geländer hinauf, blickten in Wohnungen mit eingetretenen oder fehlenden Türen und lasen obszöne Botschaften. Tatsächlich kam es Nicole so vor, als schritten sie durchs kalte Gedärm einer Leiche.
    Als sie aus reiner Neugier in eine der Wohnungen hineingelangen wollte, hielt Dean sie davon ab.
    „Wir steigen am besten ganz rauf. Die Wohnung zuoberst ist die größte im Haus. Da finden Sie vielleicht das, was Sie suchen; was immer das ist.“
    „Woher wissen Sie das?“
    „Ich bin in dieser Straße aufgewachsen“, antwortete Dean, bereits eine halbe Treppenlänge voraus. „Ich kenn' die Häuser, und dafür musste ich nicht erst Interesse für sie aufbringen.“
    „Sind denn alle Häuser gleich, was die Anordnung der Wohnungen betrifft?“ Das glaubte Nicole nicht; die Line Street barg drei- bis fünfstöckige Häuser unterschiedlicher Größe und Charakteristik; somit stellte jedes für sich etwas Einzigartiges dar, und zwar nicht nur, was den Reiz anbelangte.
    „Nicht dass ich
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