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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen
Autoren: Klaus Frank
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Versuch, aber indem Nicole jede Lücke, die sich auftat, zu nutzen wusste, gelang es ihr doch einigermaßen.
    Und plötzlich stockte sie. Sie glaubte an eine Täuschung oder an eine Reaktion der Gewalt, die am Haus zerrte. Aber nein, stellte sie fest, und der Schreck versiegelte für eine Sekunde ihre Gedanken. Im Erdgeschoss erschien hinter einem staubigen Fenster und einer leicht bewegten Gardine der Umriss eines menschlichen Gesichts.
    Nicole starrte auf die Meute der Bauarbeiter, um herauszufinden, ob sie ebenfalls Zeuge dieser Szene geworden waren, aber deren Interesse galt einzig der Abrissbirne, die dröhnend auf das Gebäude niederstieß. Dann konnte sie das Gesicht nicht mehr sehen, aber der Vorhang bewegte sich weiterhin leicht, und Nicole wusste, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
    Es gab zwischen 47 und dem Haus links davon einen Durchlass, beinah eine schmale Gasse. Ehe Nicole wusste, was sie da tat, nutzte sie die nächste aufwallende Staubwolke und den gefährlichen Guss aus herabprasselnden Gemäuerbrocken. Sie verschwand im dichten Schatten beider Gebäude. Wie gefährlich es war, was sie tat, konnte sie kaum abschätzen. Es wäre ohne Zweifel besser gewesen, die Bauarbeiter zu informieren, aber das wäre ihr wie ein Verrat vorgekommen.
    Nicole fand schnell eine Möglichkeit, ins Haus einzudringen; fast überall luden glaslose Fensteröffnungen dazu ein, und schon nach wenigen Momenten befand sie sich in einem finsteren Raum, der früher einmal eine Küche gewesen war. Unabsichtlich kickte sie einige rostige Konservendosen davon. Eine schmierige schwärzliche Schicht bedeckte den Boden, und Nicole wäre beinah ausgeglitten. Dunkel und scheinbar leer gähnte ihr der geöffnete Kühlschrank entgegen, doch als sie näher heranging, sah Nicole den Teppich aus Schimmel, der sich über die Verkleidung gelegt hatte, und dazwischen einige zu schwarzer Pampe geronnene Hügel, die einmal Lebensmittel gewesen sein mochten. Es roch bitter und schal, und je mehr sie ihre Sinne auf die ungewohnte Umgebung einrichtete, erkannte sie immer deutlicher das Gewimmel und reglose Lauern von Insektenscharen im Halbdämmer. Nicole empfand Ekel, und eine plötzliche Panikattacke fiel heftiger über sie her, als die Insekten es je hätten tun können. Nach und nach bekam sie ihre Nerven wieder in den Griff, weil sie sich einredete, wie irrational ihre Ängste tatsächlich waren; ein Erstsemestler in Psychologie hätte bewundernd zu ihr aufgeschaut.
    Plötzlich zuckte Nicole mit einem leisen Aufschrei zusammen, und das so mühsam gewobene Gespinst aus innerer Ruhe zerfaserte, als das Haus erzitterte und ein gewaltiges Knirschen und Dröhnen und beinah menschliches Wimmern aus dem Gemäuer drang. Putz platzte von der Decke, und irgendwo in der Wohnung ging mit lautem Klirren etwas zu Bruch. Die Abrissbirne mehrere Etagen über ihrem Kopf leistete ganze Arbeit. Nicole wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis mehr als nur Putz herabfiel, und sie stachelte sich zu größerer Eile an.
    Sie verließ ohne weiteres Zögern die Wohnung und befand sich in dem öd-dunklen Treppenhaus, das sie bereits kannte. Die Wohnung, in welcher sie das Gesicht hinter dem Fenster gesehen hatte, befand sich jenseits der anderen Tür.
    Von der Straße hörte sie eine Salve rohen Gelächters und eine Stimme, die darauf etwas entgegnete. Nicole sah, dass die Tür zur anderen Wohnung halb offen stand. Das erschien ihr seltsam, bis sie den zersplitterten Türrahmen und das dadurch unbrauchbare Schloss sah. Zögernd ging sie auf die Schwelle zu und lugte in den schmalen Flur, der sich dahinter auftat. Sie sah zwar den Bewohner nicht, aber sie konnte seine Anwesenheit riechen; es war eine beruhigende Ansammlung fremder Gerüche – Kaffee, Schweiß und Essen – und gleichzeitig waren sie doch beängstigend, denn in diesem Haus hätte Nicole sie nicht vorfinden dürfen.
    Wieder erzitterte das Haus, diesmal heftiger als zuvor; weiter oben schien eine Wand zum Einsturz gekommen sein, und ein schrilles Kreischen wie von sich verbiegendem Metall erklang.
    Im ersten Zimmer, das Nicole betrat, stieß sie auf die alte Frau, die am Fenster stand und im Schutz der Gardine hinausschaute.
    „Was tun Sie hier?“, stieß Nicole hervor. „Sie müssen raus hier!“ Sie erinnerte sich, dass Dean ihren Namen erwähnt hatte: Beth.
    „Dean hat mir gesagt, dass Sie kommen würden“, sagte die Frau, ohne auf Nicoles Drängen zu achten.
    „Dean?“ Nicole war
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