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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen
Autoren: Klaus Frank
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Gefühl der Wärme und Geborgenheit aus dem Zimmer niemals wieder erleben würde. Der Verlust lastete so schwer auf ihr, dass sie hätte schreien mögen. Ihr Blick verschwamm in einem funkelnden Meer aus Tränen, die aus ihren Augen fielen, und sie schluchzte hemmungslos, und es tat gut, von einer alten Frau, die gelassener reagierte, in den Arm genommen zu werden.
    „Es ist okay“, sagte Beth, während Nicole ihren Kopf an die Schulter der Frau lehnte. Für einen Moment hatte das Lärmen der Maschinen keine Bedeutung mehr, einmal vernahm Nicole ein erneutes, bedrohlich klingendes Knirschen in den Wänden und der Decke, und sie spürte, wie Beth zusammenzuckte. Nicole wusste nachher nicht zu sagen, wie viel Zeit verstrichen war. Ihr Gesicht war tränennass, Beths Kleidung war es ebenfalls. Sie war der Frau dankbar, dass sie sich angesichts ihres eigenen Todes die Zeit genommen hatte, eine andere verletzte Seele zu trösten.
    Als Nicole den Kopf hob, um ihr das zu sagen, verschlug es ihr die Sprache. „Mein Gott!“, entfuhr es ihr. Beths Gesicht war blutüberströmt, und eine tiefe Wunde klaffte in ihrem Schädel. Am Boden lag ein gezacktes und zersprungenes Deckenstück.
    „Es ist nicht so schlimm“, sagte Beth. Hinter all dem Blut lugte ein Lächeln hervor.
    „Nicht schlimm?“ Nicole starrte sie an. Ein beschämendes Gefühl überkam sie; sie hatte Trost in den Armen einer schwerverletzten Frau gesucht.
    „Ich werde nicht daran sterben. Es wird die Wand sein, die mich erschlägt, oder die Stahlkugel, von der ich zerdrückt werde. Wie könnte ich angesichts dessen wegen eines Kratzers jammern?“ Beth meinte, was sie sagte; ihr Blick hinter der gerinnenden Maske aus Blut war frei von jeglichem Schmerz, er war klar und beseelt von einer unbezwingbaren Stärke.
    Fenster brachen und eine Zwischenwand in der Wohnung über ihnen stürzte mit ohrenbetäubender Wucht ein, und ein durch das kleine Loch in der Decke dringender Schwall aus bitterem Staub reizte zum Husten. Die beiden Frauen blickten sich aus tränenden Augen an.
    „Geh nun“, sagte Beth.
    In Nicole war kein Anspruch mehr, die alte Frau zu retten; sie wusste, sie wäre mit dieser Absicht gescheitert, Beths Augen sagten ihr das. „Gib Dean einen Kuss von mir“, sagte Nicole. Dann zog sie Beth an sich und umarmte sie zum Abschied.
    Ein Jammern aus den oberen Etagen erklang, und es wirkte wie eine letzte Warnung, dem Haus den Rücken zu kehren. Vielleicht war es von Dean gesandt worden, dachte Nicole verloren, und sie musste gegen eine neuerliche Tränenflut ankämpfen.
    Bevor sie sich umwandte, um die Wohnung zu verlassen, sagte sie, zu Beth gewandt: „Danke.“ Aber Nicole wusste, dass sie dies im Getöse des wankenden Hauses nicht gehört hatte.

    Wie es ihr gelang, unbemerkt und ohne Verletzung zurück zur Straße zu gelangen, wusste Nicole nicht. Aber sie vollbrachte dieses Wunder, und sie ging, staub- und blutbesudelt, auf die von der Sonne beschienene Straßenseite und schaute dem Abriss zu. Manchmal glaubte sie, hinter der Gardine Beths Gesicht zu sehen, aber das war gewiss eine Täuschung. Die Etage, wo Deans Wohnung gewesen war, existierte nur noch in gespenstischen Fragmenten. Wo immer seine Seele jetzt war, Nicole wusste, sie würde nun auf sie herabschauen und ihr sicher ein Lächeln schenken.
    Nicole blieb nicht so lange, bis das Haus völlig zerstört war; sie wartete nur ab, bis sie sicher sein konnte, dass Beth tot in ihrem Bett lag. Dann ging sie durch die langen Schatten der Dämmerung die Line Street hinab.

Country House

    Darryl Singer schlenderte den kahlen Gang entlang und lauschte dem Echo seiner Schritte, als er die offen stehende Tür bemerkte, auf dessen Höhe er sich befand. Sein Gesicht, das vor verspürtem Stumpfsinn gerade noch so verfinstert gewesen war wie der sonnenlose Abendhimmel, zeigte plötzlich einen Ausdruck des Erstaunens, als er aus dem dunklen Raum die Stimme vernahm.
    „Also, sag mir, ob du willst!“, verlangte ein Mann.
    Darryl blieb stehen und horchte auf, der Geschmack des Verbotenen war fühlbar, und der Junge konnte nicht widerstehen, in den Trog der Verheißung einzutauchen. Er kannte die Stimme, aber er konnte sie erst einordnen, als der Mann seine Forderung wiederholte, drängender diesmal. Der Sprecher hatte, selbst wenn er einen unverfänglichen Plauderton anschlug, eine unsympathische Stimme. Aber nun, da sie jemanden beschwören sollte, klang sie durchdringend und ließ Darryls Nervenenden
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