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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen
Autoren: Klaus Frank
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den Mund. Dieser Aufforderung schlich eine widerwärtige Konsequenz nach, und sicher würde auch Fredric das wissen – würde das wissen und vor dem Mann flüchten, der ihn in die Falle zu locken versuchte. Aber statt der Schritte des Jungen, die sich der Tür näherten, vernahm Darryl eine Weile lang gar nichts, dann seufzte Cunningham auf, und seine Weisungen wurden lustvoll-kläglicher.
    Darryl warf alle Vorsicht über Bord und lugte durch den schmalen Spalt der Tür. Er erwartete das Schrecklichste, und er bekam es geboten. Linkerhand sah er den Sessel, den ein weißes Laken bedeckte, in seinen nachgiebigen Polstern hockte der fette Mann, mit um den Knöcheln hängenden Hosen, vor ihm das Kind, dessen Kopf tief über Cunninghams Schoß gebeugt war.
    Das Bild brannte sich Darryl unauslöschlich ein. Der Schänder hatte die Augen geschlossen. Seine groben Hände lagen schwer und massig auf den Schultern des Jungen, der Cunninghams Erektion massierte und sich schließlich an ihr aufspießte. Mit Ausnahme des Seufzens, das Cunningham manchmal ausstieß, war kein Geräusch zu hören; die Lautlosigkeit war des krassen Aktes unwürdig.
    Darryl wusste, dass er jeden Augenblick entdeckt werden konnte, aber es war ihm unmöglich, sich zurückzuziehen und die Sache zu vergessen, wie er tausend andere Entdeckungen zuvor auch vergessen hatte. Im Gegenteil: Er drückte mit aller Vorsicht gegen die Tür und wagte sich tiefer in den im Dämmer liegenden Raum hinein. Die Angst jammerte in seinem Kopf, aber er musste einfach Fredrics Gesicht sehen. Die Luft in dem Zimmer war bitter und roch nach altem Staub, der Darryls Kehlkopf reizte. Fredrics Gesicht kam näher, und nach weiteren lautlosen Schritten war es nah genug, um zweifellos festzustellen, dass die Vergewaltigung nichts in ihm rührte. Kein Zucken ging durch seine Züge, das Verstörung sichtbar gemacht hätte, Fredrics Augen waren weit aufgerissen, während er scheinbar mechanisch seine Arbeit verrichtete, aber er weinte nicht.
    Darryl hörte Cunningham Laute ausstoßen, die an ein Schluchzen erinnerten. Wenn er nun die Augen öffnete, würde er sehen, dass dort ein Zeuge war. Aber seine Lider zuckten bloß. Unter dem Hemdzipfel wurden die weißen Fettwülste sichtbar, die Cunningham sich im Laufe frustrierender Jahre angefressen hatte, und Darryl schüttelte angewidert den Kopf.
    Dann brabbelte Cunningham irgendetwas Unverständliches vor sich hin, vermutlich Worte der Anstachelung, denn er zog Fredric mit rohen Handgriffen noch näher zu sich hin. Der Junge stellte das Spiel auf den Kopf, wurde Darryl nach einer Weile klar. Cunningham war nun das Opfer, Fredric hatte ihn – die Metapher war grauenhaft konkret – in der Hand.
    So schön ist die Freiheit nicht, Junge, jedenfalls für dich nicht, dachte Darryl, während er sich leise aus dem Zimmer zurückzog. Seine Augen brannten. Vielleicht lag das am Staub, der sich auf die Netzhäute gelegt hatte, aber wahrscheinlicher war, dass er den Sturz ins Nichts, den er in Fredrics Gesicht gesehen hatte, in seinem Herzen als seinen eigenen wiedererkannte: Keine Verrohung ging tief genug, das zu leugnen.

    Nach einer schlaflosen Nacht, in der er sich von einer Seite auf die andere warf und die rostigen Eingeweide seines Bettes zum Quietschen brachte, war für Darryl klar, dass er ebenfalls flüchten würde. Der Plan, der in ihm reifte, war so simpel, dass Darryl mit einem Kleinkind darüber hätte debattieren können, aber gerade das machte die Idee für ihn so unwiderstehlich. Darryl musste lediglich Fredric im Auge behalten, ihm überall hin folgen, sein fleischgewordener Schatten sein. Das war selbst an einem Ort wie diesem möglich. Country House funktionierte augenscheinlich auf der Basis von gegenseitigem Vertrauen. Zwar wurde dieses Prinzip ständig mit Füßen getreten, aber niemals so sehr, dass jemand es rückgängig gemacht hätte. Diesem Prinzip war es zu verdanken, dass die Insassen – die den Statuten zufolge keine Häftlinge waren, sondern Bewohner – sich frei und größtenteils ohne Aufsicht im weitläufigen Gelände bewegen durften, wenn kein gemeinsames Programm anstand. Dieses winzige Zugeständnis an ein Leben in Freiheit war über die Jahre hinweg aufrecht erhalten worden, auch wenn es Zweifler gab, die mehr Strenge forderten.
    Das Warten auf die Flucht wurde für Darryl zu einer schier unerträglichen Angelegenheit. Stunden erstreckten sich zu Tagen, die aus dem schwarzen Jungen ein leibhaftiges
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