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Fuer immer und einen Tag

Fuer immer und einen Tag

Titel: Fuer immer und einen Tag
Autoren: Amanda Brooke
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ERSTES KAPITEL
    I ch wartete geduldig vor Dr. Spellings ausladendem Schreibtisch, der fast das ganze Zimmer einnahm. Der Arzt beachtete mich nicht, denn er war zu sehr mit den Bildern beschäftigt, die in schneller Abfolge über seinen Computerbildschirm flimmerten. Mir wurde undeutlich bewusst, dass meine Finger ein Eigenleben entwickelt hatten und an den Nähten meiner Jeans zupften, dann mit dem Zugband meiner Steppjacke spielten. Ich steckte meine eigensinnigen Hände zwischen meine übereinandergeschlagenen Beine, um sie zur Ruhe zu zwingen, doch kurz darauf bemerkte ich das leise Rascheln von Jeansstoff. Mein rechter Fuß war ausgeschert und wippte rhythmisch in der Luft.
    Die Sonne strömte durchs Fenster herein und stach mir in die Augen, zumal das Licht von den buttercremefarbenen Wänden reflektiert wurde. Es war Ende November und schon bitterkalt draußen, wovon man aber in dem behaglichen kleinen Büro nichts merkte. Entschieden wandte ich den Blick vom Fenster und der Welt draußen ab und konzentrierte mich stattdessen auf eine Reihe von Aushängen mit Hygiene- und Sicherheitshinweisen an den Wänden, von denen man erfuhr, wie man sich die Hände wusch, wie man den Notausgang fand, wie man sich die Nase putzte. Ich kannte jede Falte und jeden Riss in den Tafeln in- und auswendig. Ebenso vertraut war ich mit den Goldrahmen um Dr. Spellings Urkunden und Diplome, die seinen Patienten glaubwürdig versicherten, dass er dazu befähigt war, in die verstecktesten Winkel ihres Gehirns hineinzuspähen und ihnen die Zukunft vorherzusagen.
    Mein Fuß erstarrte mitten in der Bewegung, als der Arzt seine Sitzhaltung veränderte. Ich erwartete, dass er aufsah, doch er blickte weiter stur auf seine Arbeit. Während ich abgelenkt war, hatten meine Hände sich befreit, und ich ertappte mich dabei, wie ich mir eine dunkle Locke aus meinem Pferdeschwanz um den Finger wickelte. Mein Fuß fuhr fort zu wippen.
    Ich rutschte unruhig herum und begann es allmählich zu bereuen, so viele Schichten angezogen zu haben. Meine Haut kribbelte schon vom Schweiß, und ich wollte gerade meine Jacke ausziehen, da hob Dr. Spelling den Kopf und sah mich diesmal tatsächlich an. Er hatte mich wahrscheinlich nur eine Minute lang warten lassen, aber es war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass das Warten schon lange vor meinem heutigen Besuch angefangen hatte. Mein Leben stand seit fast fünf Jahren auf der Kippe.
    Als Dr. Spelling mich anlächelte, hatte ich absolut keine Ahnung, ob das hoffnungsvoll oder mitfühlend gemeint war. Seine intensiv grünen Augen hatten verborgene Tiefen, die jedoch keinen Hinweis darauf gaben, was er mir gleich mitteilen würde.
    Â»Also los, reden Sie schon«, verlangte ich flapsig, aber entschieden, denn ich war mit meiner Geduld am Ende. Ich hielt die Luft an und schürzte fest die Lippen, um sie am Zittern zu hindern.
    Â»Es ist vorbei«, sagte er.
    Diese schlichte Aussage konnte man verschieden interpretieren, aber für mich war die Botschaft so klar, dass ich aufatmete. »Nichts mehr nachweisbar?« Meine Frage kam als bebendes Flüstern heraus.
    Â»Komplette Remission«, bestätigte er.
    Endlich gestattete ich mir, zum Fenster hinauszusehen – über die Baumwipfel hinweg, die von den Herbstwinden der letzten Überreste ihrer sommerlichen Pracht entkleidet wurden, und in den klaren blauen Himmel hinein. Freiheit, dachte ich, während sich ein Lächeln auf mein Gesicht stahl und den Kummer und die Angst vertrieb, die einen dunklen Schatten auf mein Leben geworfen hatten. Es hatte lange gedauert, aber ich war erst neunundzwanzig. Ich hatte noch alles vor mir und furchtbar viel nachzuholen.
    Â»Emma, es ist so weit«, flüsterte Meg.
    Emma versteifte sich, und ihre Finger hielten über der Tastatur inne, sobald die Verbindung zu den Worten in ihrem Kopf unterbrochen wurde. Das Lächeln auf ihrem Gesicht geriet ins Wanken, als sie aufsah und Dr. Spelling und sein Gefolge entdeckte, die weiter hinten auf der Station ins Gespräch vertieft waren. Ihr Herzschlag hörte sich an wie der Trommelwirbel, der auf den Fall des Henkersbeils vorbereitet.
    Es hatte sie ungeheure Konzentration gekostet, ihre Umgebung auszublenden und mit dem Schreiben anzufangen, sich in eine Welt zurückzuziehen, die sie ganz beherrschte und die sie nun äußerst ungern wieder verließ.
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