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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult
Autoren: Ines Eberl
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würde. Ohne ein weiteres Wort des Abschieds drehte er sich um und ging auf die Bäume zu. Marie fühlte sich wie auf einem Schiffsdeck bei Windstärke acht. Sie legte die Hand auf die Brust, wo ihr Herz ungewohnt stark schlug.
    »Roland?« Der Föhnwind übertönte ihre Stimme.
    Er verschwand zwischen den herabhängenden Zweigen der Weiden. Der Strand, die Bäume, der See, alles drehte sich um Marie. Ihr Herz schlug bis zur Kehle, und sie bekam Atemnot. Sie holte so tief Luft, wie sie konnte, und schrie: »Roland! Hilf mir! Hilfe …«
    Der Motor des Porsche heulte auf. Marie taumelte in Richtung Ufer. Der Sportwagen entfernte sich, wurde immer leiser, bis er nicht mehr zu hören war.
    Das Herz schien Marie fast zum Hals herauszuspringen, so stark klopfte es. Sie hustete und würgte. Die ganze Welt war eine Scheibe, die sich drehte und drehte und sie herumwirbelte. Marie sank in die Knie. Sie versuchte noch, sich mit den Händen im feuchten Sand abzustützen, aber dann verließen sie die Kräfte und sie schlug der Länge nach hin.
    Kalte Wellen umspülten ihr Gesicht. Ihr Herz raste, und sie meinte zu ersticken. Ein paarmal schnappte sie nach Luft. Dann war da nur noch Wasser.

ZWEI
    Scientia potentia est.
    Wie die Botschaft eines römischen Triumphators an die Nachwelt prangte der Wahlspruch der Mortins in Stein gemeißelt über dem Schlosstor. Wissen ist Macht. Ein gutes Motto für eine Familie von Gelehrten, fand Hans Bosch, als er nach dem steilen Anstieg in Sichtweite des Tores stehen blieb. Dahinter erhob sich das Schloss. Im Stil der Neugotik errichtet, mit hohen Spitzbogenfenstern, Giebeln und Türmchen, erinnerte es eher an eine Kirche als an eine Burg. Auf dem Dach hockten steinerne Fabelwesen und Wasserspeier mit dämonischen Fratzen und beugten sich über die Regenrinnen. Soviel Bosch wusste, wurde das Schloss nur von einem alten Mann bewohnt, dem Enkel des berühmten Weltreisenden und Forschers Thibeault de Mortin.
    Bosch stützte die Hände in die Seiten und versuchte, tief Luft zu holen. Hinter seinen Rippen saß ein stechender Schmerz, der ihn am Atmen hinderte. Der malerische Spazierweg vom Brunnwinkl nach Fürberg führte bequem am Seeufer entlang, den anschließenden Anstieg hatte er jedoch unterschätzt. Auch der warme Föhnwind machte ihm zu schaffen. Wie immer in solchen Momenten nahm er sich vor, sein Gewicht unbedingt unter hundert Kilo zu bringen. Allerdings wurde er im nächsten Jahr vierzig. Da musste man nicht mehr so unbarmherzig zu sich sein.
    Er nahm die Brille ab, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann lehnte er sich an das Holzgeländer, das den Weg sicherte, und blickte auf den See hinab. Unter ihm ragte das Ochsenkreuz auf seinem Felsen aus dem tintenblauen Wasser. Ein Bauer sollte es zum Dank für den Ochsen errichtet haben, der ihn an einem Wintertag vor dem Ertrinken gerettet und auf die Insel gebracht hatte. Angesichts der Julihitze schien der Winter undenkbar weit weg.
    Erst im Oktober musste Bosch wieder vor seinen Studenten im Hörsaal stehen. Drei Monate würde er in dem kleinen Holzhaus am See wohnen und arbeiten. Seine Staffelei stand schon auf der Veranda, und die Malutensilien lagen bereit. Er spürte ein Ziehen in der Brust, wenn er an das mit Kreide angelegte Bild dachte, das auf der Staffelei wartete.
    Ein Jahr nach dem Tod seines Malerfreundes Franz Schwarzenberger war er froh, Salzburg und den Erinnerungen den Rücken zu kehren. Der Auftrag des Denkmalamtes, die externe Bauaufsicht für die Umbauarbeiten im Schloss zu übernehmen, war ihm wie ein Himmelsgeschenk erschienen. Als Zeichen, dass das Leben für ihn weiterging. Franz hatte sein Tod sowieso nur noch mehr Ruhm beschert. Das Museum der Moderne zeigte eine Retrospektive, die Preise für einen echten Schwarzenberger waren ins Astronomische gestiegen. »Die Lieblinge der Götter sterben jung«, hatte Franz immer gesagt. Franz war achtunddreißig geworden.
    Ein Schwan zog mit metallischem Flügelschlag an Bosch vorbei. Sein Schatten huschte über das Wasser, es sah aus, als flögen dort zwei Vögel, ein weißer und ein schwarzer, wie ein ungleiches Brüderpaar. Bosch stieg die letzten Meter zum Schloss hinauf.
    Statt einer Klingel hing ein rostiger Seilzug neben dem Tor. Bosch zog zweimal an dem geschmiedeten Griff. Ein Glockenspiel erklang, und nach kurzer Zeit wurde die Tür von einem jungen Mann in grünem Overall geöffnet. Breite Wangenknochen und eine lange Nase
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