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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult
Autoren: Ines Eberl
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beherrschten sein Gesicht. Die Lippen über dem fliehenden Kinn wölbten sich vor. Bosch fühlte sich sofort an die in Stein gemeißelten Profile auf Mayareliefs erinnert. Der Mann musterte Bosch unter schweren Lidern. In der Hand hielt er eine offene Gartenschere.
    »Grüß Gott, mein Name ist Bosch.«
    Die Worte riefen keine Reaktion hervor.
    »Ich komme im Auftrag des Denkmalamtes.« Verstand dieses Faktotum ihn überhaupt? »Herr de Mortin erwartet mich.«
    Als wäre der Name des Schlossherrn das Losungswort gewesen, senkte der Mann das Kinn, gab die Tür frei und bedeutete Bosch mit der Gartenschere einzutreten.
    Bosch folgte ihm durch eine Halle und einen langen Gang. An den Wänden hingen Stiche mit Segelschiffen in abgeblätterten Rahmen. In einer Glasvitrine war ein türkisfarbener Federkopfschmuck aufgefächert. In einer anderen hockten indianische Tonfiguren mit weit aufgerissenen Mündern. Das Parkett war abgetreten und an den Stellen, wo es dem Lichteinfall ausgesetzt war, verblichen. Staubkörnchen tanzten in der Luft.
    Endlich stieß der junge Mann eine Tür auf. Es war die Schlossbibliothek, in die Bosch geführt wurde. Alle Wände waren von Regalen aus hellem Holz bedeckt. Tausende Bücher standen dort und stapelten sich teilweise übereinander. Diese Bibliothek diente offensichtlich nicht zur Zierde, sie wurde von ihrem Eigentümer benutzt. Der junge Mann deutete mit der Schere ein paarmal zu Boden und nickte nachdrücklich, dann verließ er den Raum.
    Bosch meinte verstanden zu haben, dass er warten sollte, und schaute sich in der Bibliothek um.
    Über dem Kamin hing ein Gemälde im schweren Goldrahmen. Es musste um 1930 entstanden sein und zeigte einen schnauzbärtigen Mann auf einem weißen Maultier. Seine Augen wurden von der breiten Krempe eines Sonnenhutes beschattet. Er trug ein Khakihemd, Reithosen und hohe Schnürstiefel. Mit einer Hand hielt er die Zügel, die andere hatte er auf die Hüfte gestützt. Quer über seine Brust lief ein Lederriemen, und über seine Schulter ragte ein Gewehrlauf. Hinter dem Reiter breitete sich hohes Savannengras bis zu einer Bergkette am Horizont aus. Das Bild im Stil der klassischen Moderne war gut, aber es fehlte ihm an Leben. Es sah aus, als sei es nach einer Fotografie gemalt worden.
    Vor dem Kamin gruppierten sich ein rotes Samtsofa und mehrere Sessel um einen niedrigen Tisch. Darauf lagen Bücher, aus denen Lesezeichen ragten. Auf einem abgegriffenen Lederfolianten stand eine große Glaskugel, die in dieser Umgebung wie die Kristallkugel einer Wahrsagerin wirkte. Aber vielleicht konnte man sie auch nur schütteln und auf diese Weise in ihrem Inneren heftiges Schneegestöber erzeugen.
    Bosch lauschte, ob er vielleicht schon Schritte hören konnte. Hatte der Mann gemeint, dass er den Schlossherrn holen werde? Er fasste sich in Geduld und schlenderte zum Kamin hinüber.
    Auf dem Kaminsims lehnte ein gerahmter Stich, der einen Kopf im Profil zeigte. Er schien ganz aus kunstvollen Linien und Wirbeln zu bestehen und erinnerte Bosch an die Porträts Arcimboldos, deren Gesichter sich aus Blumen oder Feuerholz zusammensetzten. Winzige Zahlen standen auf der Zeichnung und wiederholten sich in einer Legende am unteren Rand des Bildes. Gerade als Bosch näher treten wollte, fiel die Bibliothekstür hinter ihm ins Schloss. Er drehte sich um.
    »Dr.   Bosch, wenn ich nicht irre?« Ein kräftiger Mann kam auf ihn zu, wobei er das linke Bein ein wenig nachzog.
    Bosch musste lächeln. Mit diesen Worten hatte Sir Henry Morton Stanley den verschollenen Livingstone im afrikanischen Busch begrüßt. »Nicht Mr.   Stanley, nehme ich an.«
    Henri de Mortin zuckte mit den Mundwinkeln. Er trug eine grüne Tweedjacke und einen Rollkragenpullover, der über dem Bauch spannte. Die Cordhose beulte ein wenig an den Knien, aber die braunen Schnürschuhe, die bis über den Knöchel reichten, waren auf Hochglanz poliert. In der Brusttasche der Jacke bauschte sich ein Seidentuch. Trotz seiner Korpulenz wirkte Mortin eher kräftig als dick, was vielleicht an den breiten Schultern und seiner aufrechten Haltung lag. Wie ein Militär in Zivil schien er die Uniform im Kopf zu haben. Bosch schätzte ihn auf Anfang siebzig.
    Der Schlossherr blieb vor Bosch stehen. »Zum Glück hat mir Cesario gesagt, wo ich Sie finde. Ich fürchte, er war nicht sehr hilfreich. Er spricht nur eine Art spanischen Dialekt.« Er schaute auf das Porträt über dem Kamin. »Wie ich sehe, haben Sie sich schon mit
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