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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage
Autoren: Harry Bingham
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noch einen kleinen Schubs. Also gut, bitte.
    » Durch die Arbeit habe ich ein kleines Mädchen kennengelernt. Eine ganz süße Sechsjährige, ein echtes Goldstück. Irgendwann habe ich gemerkt, dass sie mir etwas sagen will. Nämlich: Sie ist die Tochter ihrer Mutter. Klingt ziemlich bescheuert, oder? Die Tochter ihrer Mutter. Na ja, diese Mutter hatte ein unglaublich schwieriges Leben. Da will ich jetzt nicht ins Detail gehen, aber sie hatte es alles andere als leicht. Trotzdem hat sie alles Mögliche unternommen, um ihre Tochter bei sich zu behalten. Sie wollten das Mädchen in ein Heim stecken, aber die Mutter hat gekämpft wie eine Löwin. Sie wollte, dass es ihre Tochter mal besser hat als sie. Letzten Endes war sie damit nicht besonders erfolgreich, aber sie hat’s versucht. Sie hat alles gegeben.
    Egal. Nach und nach spürte ich, dass mir dieses kleine Mädchen etwas sagen wollte. Etwas ziemlich Offensichtliches, wie sich herausstellte. Das kleine Mädchen wollte mir sagen, dass ich nicht die Tochter meiner Mutter bin. Oder die meines Vaters. Dieses kleine Mädchen hatte ein schreckliches Leben, und doch besaß es etwas, das ich niemals hatte.«
    Ich halte das Foto hoch.
    Dad ist groß. Mam ist groß. Kay ist groß und schlank und wunderschön. Ant ist noch am Wachsen. Bleibt nur Fiona, die überintellektuelle Außenseiterin, das schwarze Schaf.
    » Dabei ist es wirklich so offensichtlich. Ich bin nicht wie ihr. Jedenfalls nicht physisch. Und auch … sonst nicht. Versteht mich nicht falsch, ich liebe euch beide über alles. Euch und Kay und Ant. Diese Familie ist das Beste, was mir passieren konnte. Aber ich will wissen, wo ich herkomme. Vielleicht war ich früher noch nicht bereit für die Wahrheit. Aber jetzt schon. Und ich will es wissen.«
    Was ich nicht sage – was ich niemals sagen werde –, ist, dass da mehr war als nur Aprils beharrliche Andeutungen. Das, was Lev behauptet hat. Und Axelsen. Und Wikipedia.
    Den größten Teil meines Lebens stand ich unter Schock. So ziemlich alle Symptome treffen auf mich zu. Wenn man sich vorstellt, dass das Cotard-Syndrom die extremste, ausgefallenste Form der Depersonalisation ist, die man sich vorstellen kann, dann könnte man auch sagen, dass ich unter der extremsten, ausgefallensten Form eines Schockzustands leide. Wenn es um meine geistige Verfassung geht, mache ich keine halben Sachen.
    Das einzige Problem bei der Lev-Axelsen-Wikipedia-Theorie war, dass ich eine Bedingung nicht erfüllte, die jedoch eine Grundvoraussetzung ist. Das traumatische Ereignis. Ein Ereignis, das nie stattgefunden hat.
    Ich habe Lev die Wahrheit gesagt. Meine Familie war keine Bedrohung für mich. Es gab weder psychischen noch physischen Missbrauch. Keinen Alkoholismus. Keine Scheidung. Kaum Streit. Keine Bedrohung von außen. Keine sonderbaren Onkel. Keine Übergriffe durch Fremde. Die sicherste Familie in ganz Wales. Dads Geld, seine Energie, sein Ruf sind dicke Betonmauern. Jeder Bösewicht in Cardiff wird es sich zweimal überlegen, bevor er sich Dad zum Feind macht. Mein ganzes Leben lang war ich so sicher wie in Abrahams Schoß.
    Solange ich mich erinnern kann.
    Traumatische Erfahrungen können allerdings weit in der Vergangenheit liegen. Weiter als die Kindheit, weiter als die Erinnerung. Was ist in den ersten Jahren meines Lebens geschehen? Warum kann ich mich nur sehr undeutlich an meine Kindheit erinnern? Wieso hat das Cotard-Syndrom aus heiterem Himmel meine Teenagerjahre ruiniert? Warum wache ich manchmal schweißgebadet aus einem ungeheuer lebhaften Alptraum auf und liege dann den Rest der Nacht über mit eingeschaltetem Licht wach, weil ich mich nicht mehr traue, wieder einzuschlafen?
    Das alles spreche ich natürlich nicht laut aus. Das werde ich nie vor diesen Menschen aussprechen, die mich so sehr lieben. Trotzdem ist es Zeit für eine Antwort, und das wissen sie auch.
    Sie sehen sich über den Tisch hinweg an. Dad legt seine Hand auf die seiner Frau und streichelt sie kurz. Dann steht er auf. » Einen Moment, mein Schatz«, sagt er und verlässt den Raum.
    Mam und ich bleiben allein mit der tickenden Uhr zurück.
    Eine tickende Uhr in einem stillen Zimmer.
    Sie lächelt mich an. Ein tapferes, aber auch unsicheres Lächeln. Ich lächle zurück. Ich fühle mich gut. Die Antizipation scheint etwas abgeflaut zu sein, und nun weiß ich nicht so recht, was ich fühle. Oder, besser gesagt: Ich fühle etwas, kann es aber nicht benennen. Als ob man innerlich schmelzen
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