Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage
Autoren: Harry Bingham
Vom Netzwerk:
würde, als ob etwas Festes flüssig wird. Eigentlich kein schlechtes Gefühl. Ich weiß nur nicht, wie es heißt. Womöglich haben nicht mal die Ärzte einen Begriff dafür.
    Dann kommt Dad wieder zurück.
    Er hat ein Foto und eine Plastiktüte mitgebracht.
    Er setzt sich. Lächelt erst mich, dann Mam und dann wieder mich an.
    Die Uhr tickt viel zu laut.
    Wir sind alle nervös. Als ob die Antizipation den Raum, in dem wir uns befinden, ja das ganze Haus ergriffen hätte. Jetzt würden mich die Ärzte bestimmt zurechtweisen. Ein Haus hat keine Gefühle. Andererseits waren sie auch noch nicht in der Situation, in der ich mich befinde. Sie wissen ja nicht, wie es ist, sein ganzes Leben zitternd an der Schwelle des Nervenzusammenbruchs zu verbringen.
    Dad zeigt mir das Foto, reicht es mir.
    Auf dem Bild bin ich etwa zweieinhalb Jahre alt. Ein rosa Kleidchen mit weißen Schleifen. Ein schüchternes Lächeln, ein kleiner weißer Teddybär. Obwohl ich das Foto noch nie zuvor gesehen habe, erkenne ich das Auto wieder, in dem ich sitze. Dads altes Jaguar XJ -S Cabrio. Das Verdeck ist heruntergelassen. Es ist ein einigermaßen sonniger Tag. Ich kann genug von der Straße sehen, um zu wissen, wo das Bild aufgenommen wurde. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass mit dem Foto irgendetwas nicht stimmt.
    Ich sehe Dad an.
    » Meine liebe Fiona, dieses Bild wurde am 15. Juni 1986 aufgenommen. Und zwar mit dieser Kamera.«
    Er nimmt die Kamera aus der Tüte und schiebt sie mir über den Tisch zu. Es ist ein kleiner brauner Fotoapparat in einem Lederetui samt Lederriemen. Die Kamera sieht aus, als wäre sie schon 1986 ziemlich alt gewesen.
    » Diese Kamera haben wir am selben Tag wie dich gefunden. Wir waren gerade in der Kirche – damals hat mich deine Mam noch zum Gottesdienst schleppen können –, und als wir rauskamen, stand da unser Auto, so wie vorher, nur dass ein kleines Wunder darin saß. Du. Wir kamen aus der Kirche, und da warst du. Einfach so. In unserem Auto, mit dem Fotoapparat um den Hals. Wir haben den Film entwickeln lassen, und es war nur dieses eine Bild darauf. Ein Bild von dir. Keine Nachricht, nichts. Nur ein wunderschönes kleines Mädchen auf dem Rücksitz unseres Wagens.«
    Ich höre genau zu. Alles erscheint gleichzeitig völlig und nicht im Geringsten sinnvoll. Wie auf einer Drehbühne, wenn sich die neue Kulisse von links hereinschiebt und die alte auf der rechten Seite verschwindet. Man sieht beides zur gleichen Zeit. Sieht alles in seiner Gesamtheit. Versteht alles. Begreift, dass eines das andere ablöst. Dass das, was man für seine Welt gehalten hat, auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
    » Ihr habt mich gefunden?«, frage ich. » Ihr seid aus der Kirche gekommen und habt mich gefunden?«
    » Ja. Deine Mam und ich wollten Kinder. Wir können gar nicht genug von ihnen kriegen. Stimmt doch, Kath? Aber damals konnte deine Mutter nicht schwanger werden. Keine Ahnung, wieso. Bei den beiden Mädels oben hat alles ganz normal geklappt. Nun ja, jedenfalls kamen wir gerade aus der Kirche. Wir hatten dafür gebetet. Taten wir immer. Und plötzlich warst du da. Danke, Jesus. Du hast unsere Gebete erhört. Wirklich, es war wie ein kleines Wunder. Und nicht mal die Sorte von Wunder, die wie am Spieß schreit und ständig alles vollkotzt. Der Herr in seiner Güte hatte dich diese Phase bereits durchmachen lassen und dich uns sauber und niedlich und sehr reinlich geschickt. Sogar mit deinem eigenen kleinen Teddybären.«
    » Natürlich …«, wirft Mam ein, damit nicht der Eindruck entsteht, als wären sie einfach mit mir davongefahren.
    » Ja, natürlich haben wir den Behörden Bescheid gegeben. Wären deine leiblichen Eltern aufgetaucht, hätten wir dich natürlich wieder abgegeben. Obwohl wir das nur ungern getan hätten. Wir waren von Anfang an in dich vernarrt. Auf der Stelle. Trotzdem, wenn deine Eltern aufgetaucht wären, hätten wir dich sofort zurückgegeben.«
    Dann erzählt Mam weiter. Über die Adoption. Dass alles, » na ja, etwas kompliziert war, mit der Arbeit deines Vaters und so weiter«. Das ist eine gewaltige Untertreibung. Die späten Achtziger waren, soweit ich weiß, der Höhepunkt in der Gangsterkarriere meines Vaters. Ich erinnere mich, dass ich mit fünf oder sechs Jahren an einem Tisch saß und Dad brüllend mit seinen Freunden darüber lachte, dass er wohl der unschuldigste Mann in ganz Südwales sei. Fünf Anklagen und keine einzige Verurteilung. Wahrscheinlich hatte die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher