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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage
Autoren: Harry Bingham
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Tote Menschen, aber ich war ja auch mal tot. Sie sind eine angenehme Gesellschaft. Unkompliziert, glücklich, umgänglich. Um ehrlich zu sein, komme ich mit ihnen besser klar als mit den Lebenden. Ich weiß, das klingt komisch, aber du bist ja auch nicht wie ich. Niemand ist wie ich.«
    » Und da ist nichts …? Himmel, Fi, ich weiß nicht, ob ich dir das glauben soll oder nicht, aber bitte, sag mir, dass du das nicht … na ja, zum Spaß machst oder so.«
    Ich starre ihn mit offenem Mund an. Ich habe keine Ahnung, worauf er hinauswill, daher versuche ich zu erraten, was ein normaler Mensch in einer Situation wie dieser wohl fragen würde. Dann begreife ich. » Etwas Sexuelles? Wolltest du das sagen?«
    Er nickt, offenbar erleichtert, weil er es nicht selbst aussprechen musste.
    » Das hat nicht im Entferntesten mit Sex zu tun. Tote Menschen interessieren sich nicht für Sex. Das ist kein Scherz. Tun wir nicht. Ich meine, ich hab mich nicht dafür interessiert, solange ich krank war, und sie interessieren sich auch jetzt nicht dafür. Sie sind einfach … sie sind einfach tot.«
    » Okay. Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Unterbrich mich, wenn ich was Falsches sage.«
    Einverstanden. Die Anspannung zwischen uns löst sich langsam. Ich kann zwar noch immer nicht klar denken, aber die große, die schlimme, die Cotard-Sache ist raus, und Brydon ist nicht Hals über Kopf aus der Tür gestürmt. Er ist noch da. Er hat mich nicht aufgegeben. Noch bin ich nicht aus dem Schneider, so viel weiß ich. Doch die Katastrophe ist bis jetzt noch nicht eingetreten.
    Ich höre Brydon zu, wie er meine Zusammenfassung zusammenfasst.
    » Es war einmal ein Arzt namens Dr. Cotard«, fängt er an.
    » Richtig.«
    » Nach ihm ist das Cotard-Syndrom benannt.«
    » Nur weiter.«
    » Zwei Jahre lang hattest du das Pech, an besagtem Syndrom zu leiden.«
    » Ungefähr zwei Jahre. Tote Menschen interessieren sich nicht so für Zeit.«
    » Okay, also ungefähr zwei Jahre. Dann wurde es besser. Oder so ungefähr.«
    » Genau.«
    » Vielleicht ein paar – keine Ahnung, Panikattacken? –, aber nichts, das du nicht in den Griff bekommen hättest.«
    » Richtig.« Nicht ganz richtig. Die ersten drei Jahre nach meiner » Genesung« waren die Hölle. Die Zeit in Cambridge war am schlimmsten. Das Gespenst meines eigenen Todes grinste mich durch jede dunkle Fensterscheibe an. Ich denke nicht gerne an diese Jahre zurück. Auf gewisse Weise waren sie noch schlimmer als die Cotard-Phase selbst.
    » Dann hat es dich im Zuge deiner Ermittlungen in die Leichenhalle verschlagen.«
    » Als Begleitung von DI Kenneth Hughes während der Ermittlungen zu Operation Lohan.«
    » Also gut. Und da … oh Mann, das kapier ich nicht. Du wolltest bei den Leichen sein. Wieso?«
    » Keine Ahnung. Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen. Auf jeden Fall hab ich mich lebendig genug gefühlt, um mich an die Toten ranzutrauen. Ergibt das irgendeinen Sinn? Ich war am Leben, sie waren tot, wir haben ein bisschen Zeit miteinander verbracht. Und mir ging’s gut dabei. Keine Spur vom Cotard – und das zum ersten Mal, seit ich vierzehn oder fünfzehn war. Einfach weg.«
    Plötzlich fällt mir auf, wie viele Gefühle sich in Brydons Gesicht widerspiegeln. Viel mehr, als ich selbst fühle.
    » Das ist beeindruckend, Fi. Wenn es wirklich weg ist, ist das doch toll.«
    » Keine Ahnung, ob es auch so bleibt. Wie gesagt, es ist nicht ganz weg. Ich glaube nicht, dass ich es je loswerden kann.«
    » Jetzt ruinier mir nicht diesen Moment. Ich war grade in so guter Stimmung.«
    » Es war jedenfalls eine schöne Nacht. Wirklich schön.«
    Er nickt. Wie viele Menschen auf der Welt würden sich das wohl anhören und es auch noch so gelassen hinnehmen? Außer meiner Familie und den Psychologen habe ich noch niemandem von meiner Krankheit erzählt. Bis gerade eben.
    » Wie war das denn? Wie kann man sich denn bitte vorstellen, tot zu sein?«
    » Das kann ich dir auch nicht genau sagen. Ich war ja bei Bewusstsein. Mein Gehirn hat nicht aufgehört zu arbeiten. Aber ich glaube nicht, dass ich Gefühle hatte. Keine Emotionen. Kein Schmerzempfinden, nicht so richtig. Jede menschliche Berührung fühlte sich komisch an. Als ob mein Körper taub wäre oder so. Es hat sich einfach nach nichts angefühlt. Was hätte ich denn sonst denken sollen? Es war gar nicht so falsch, dass ich geglaubt habe, ich wäre tot. Schließlich war ich ja nicht lebendig. Genau genommen nicht. Nicht so wie du
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