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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage
Autoren: Harry Bingham
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anstrengend, wenn du die ganze Zeit rumläufst.«
    Er setzt sich mir gegenüber und blickt sehr ernst drein.
    » Danke. Ja, Zusammenbruch trifft es wohl. Aber es war eine besondere Art von Zusammenbruch. So besonders, dass es eine Bezeichnung dafür gibt. Cotard. Nach Dr. Jules Cotard. Le délire de négation. Das Cotard-Syndrom.«
    Brydon starrt mich traurig, aber vorurteilsfrei an. Ich weiß, dass er keinen blassen Schimmer hat, wovon ich rede, doch ich werde es ihm erklären.
    » Das ist eine Krankheit, die sich ziemlich lustig anhört, solange man nicht davon betroffen ist. Es ist eine wahnhafte Störung. Viel mehr als ein Zusammenbruch. Ein richtiger, richtiger Wahn. Ich war völlig durchgeknallt.«
    Brydon nickt. Er ist weder verängstigt noch voreingenommen. Wenn ich jetzt abwarte, würde er wohl wieder diesen » lange her«-Spruch bringen, aber ich rede lieber weiter, solange ich noch die Kraft dazu habe.
    » Der Grund, warum diese Krankheit nach Dr. Jules Cotard benannt wurde, ist die Eigentümlichkeit dieses Syndroms. Patienten, die an einer schwächeren Form leiden, sind verzweifelt und voller Selbsthass. Bei mir war es nicht die schwächere Form, sondern das volle Programm. Bei einem richtig schweren Cotard denkt man, dass man nicht existiert, dass der eigene Körper leer ist oder gerade verwest.«
    Hier wollte ich eigentlich aufhören, aber dann sehe ich Brydon an und merke, dass er es nicht begriffen hat. Ein normaler Mensch kann ja auch nicht kapieren, was ich gerade gesagt habe.
    Ich hole tief Luft.
    Sag es, Griffiths. Sprich es laut aus. Erzähl es dem netten Mann, der dir gegenübersitzt. Erzähl es ihm und vertrau darauf, dass sich alles zum Guten wenden wird.
    Also erzähle ich es ihm.
    » Buzz, zwei Jahre lang dachte ich, ich wäre tot.«
    Schweigen.
    Langes, langes Schweigen.
    Zeit genug, um mich zu fragen, ob ich jetzt wohl einen Ex-Freund habe. Dass er mich gleich zum nächsten Raketenbahnhof schleppen und mich vom Planeten der normalen Menschen aus ins All schießen wird – dorthin zurück, von wo ich hergekommen bin. Mir ist, als hätten weder er noch ich seit einer Ewigkeit geblinzelt.
    » Willst du mir damit sagen, dass du diese Nacht im Leichenschauhaus verbracht hast?«
    Ich nicke. » Größtenteils bei Janet und April. Bei den Mancinis. Und bei Stacey Edwards. Im Autopsiesaal.«
    Er streckt den Arm aus, nimmt meine Hand und redet mit mir in einer Stimme, die man normalerweise für die völlig Verrückten reserviert. Das ist schon in Ordnung. Du musst dir helfen lassen. Das wird schon wieder.
    Ich unterbreche ihn. Sein Fehler ist ziemlich offensichtlich. Ein Fehler, den wohl jeder machen würde. Und der mich trotzdem zum Lachen bringt.
    » Nein, nein. Ich bin nicht verrückt. Ich weiß, wie es ist, verrückt zu sein. So war es nicht. Ich hab mich selten so lebendig gefühlt.«
    Das ist meine Logik. Für mich ergibt das alles einen Sinn. Andererseits war der gesunde Menschenverstand noch nie mein Spezialgebiet, und heute Abend ist mein Sinn dafür sowieso so gut wie nicht vorhanden.
    » Du hast die Nacht mit drei Leichen verbracht. Drei Mordopfern. Und …«
    Ich halte die Hand hoch, um dem ein Ende zu bereiten. » Buzz, jetzt ist dein Verständnis gefragt. Tut mir leid, aber hör mir erst mal zu. Seit ich geheilt bin – nein, eine Heilung gibt es eigentlich nicht. Cotard kann nachlassen, aber man wird es nie los. Das würde ich zwar nie meinem Therapeuten erzählen, aber so ist es nun mal. Und ich bin mir bewusst, dass ich es irgendwann wieder kriegen könnte. Davor habe ich Angst – jede Stunde, jeden Tag, seit es mir besser geht.«
    » Dein Therapeut. Bist du noch …«
    » Eigentlich nicht. In einem so schweren Fall wie meinem bekommt man einen beratenden Arzt zur Seite gestellt, falls etwas passiert. Ich sollte ja ab und zu zum Gespräch vorbeikommen, mach ich aber nicht. Schon seit Jahren nicht mehr.«
    » Und in dieser Nacht, im Leichenschauhaus …«
    » Das Ganze war nicht besonders gut durchdacht, eher eine Bauchentscheidung. Ich dachte einfach, ich müsste tote Menschen um mich haben. Nicht die Mancinis, sondern auch …« Ich bin kurz davor, ihm von Stacey und Edith und Charlie dem Schlitzohr zu erzählen, doch das würde wahrscheinlich zu weit führen, also lasse ich es. » Auch bei den anderen. Weißt du, für dich sind sie einfach nur tot. Fremd. Du kommst nicht damit klar, dass ihre Herzen nicht mehr schlagen und ihre Organe fehlen.
    Aber für mich sind es Menschen.
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