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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage
Autoren: Harry Bingham
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nette Art. Hat mir gefallen. Ich hab’s richtig drauf angelegt. Ich muss betonen, dass es das tote Mädchen war, das mich heimgesucht hat. Das lebende Mädchen hat mich gar nicht so interessiert, so leid es mir tut. Können Sie mir folgen?
    Der Doktor beißt die Zähne zusammen. Ja, ja, zischt er, aber wir haben über Antizipation gesprochen. Ein gegenwärtiges Gefühl, das ein zukünftiges Ereignis betrifft.
    Doc, dazu komme ich gleich. Nur die Ruhe. Also, irgendwie war ich der Meinung, dass mir das kleine Mädchen etwas mitteilen wollte. Ich wusste nur nicht, was, also verbrachte ich eine Nacht bei ihr im Leichenschauhaus. In dem großen Leichenschauhaus in der Uniklinik, kennen Sie das?
    Über Nacht? Im Leichenschauhaus? Er klingt äußerst schockiert. Die Schwester nähert sich langsam der Tür und dem dicken roten Alarmknopf daneben. Bitte versuchen Sie, sich auf das Thema zu konzentrieren. Es geht um Antizipation. Sie wollten mir demonstrieren, dass Sie das Konzept richtig verstanden haben.
    Das Leichenschauhaus, Doc. Wo sie die Leichen aufbewahren. Macht Ihnen das Angst? Haben Sie Probleme mit den Toten? Ist es Ihnen unangenehm, in ihrer Nähe zu sein? Da sollten Sie vielleicht mal mit jemandem drüber reden. Wie dem auch sei – ich blieb die Nacht bei dem Mädchen und seiner Mutter. Die ist übrigens auch tot. Habe ich das schon erwähnt? Sie hat tolle Haare. Kupferfarben. Und eine unglaubliche Haut. Und sie hat mir etwas Interessantes gezeigt. Etwas, über das ich mit meinen Eltern sprechen muss. Es ist schon komisch, aber ich glaube, dass diese Unterhaltung die Sichtweise ändern könnte, die ich auf mein bisheriges Leben habe. Vielleicht mit positivem Ergebnis, vielleicht auch nicht. Vielleicht – wie haben Sie es genannt? – gemischt. Das Gefühl, das ich gerade empfinde – kribbelig, aufgeregt, nervös, angespannt –, könnte man wohl als Antizipation bezeichnen. Fühlt sich jedenfalls so an.
    Ja, Fiona. Da haben Sie ganz recht. Antizipation. Wenn Sie einem Ereignis in der Zukunft entgegenfiebern. Wollen wir über etwas anderes sprechen?
    So ungefähr liefen diese Sitzungen immer ab. Anfangs habe ich den Ärzten eine Heidenangst eingejagt, ohne mir dessen überhaupt bewusst zu sein. Ich wusste nicht, was ich gesagt habe, dass sie plötzlich diese » Die spinnt komplett«-Blicke mit der Schwester austauschten. Oft verkündeten die Ärzte am Ende dieser Sitzungen, dass meine » Medikation angepasst« werden müsste, um mir » den Alltag angenehmer zu gestalten«, was, grob übersetzt, hieß, dass sie die Dosis desjenigen Medikaments, auf dem ich aktuell war, erhöhten, um sich selbst den Alltag angenehmer zu gestalten. Mindestens einmal, wenn nicht öfter, endeten diese Sitzungen damit, dass mich zwei kräftige Pfleger » fixierten«, während mir der Arzt ein Beruhigungsmittel spritzte. Eigentlich sollte man denken, dass es jemandem, der von Berufs wegen mit Geisteskranken zu tun hat, auch Spaß macht, mit Geisteskranken zu arbeiten, aber ich begriff schnell, dass das ganz und gar nicht der Fall war. Von ein paar Heiligen wie Ed Saunders abgesehen schienen die meisten dort zu arbeiten, weil sie Geisteskranke abgrundtief hassten. Sie hassten und sie bestrafen wollten. So lange mit Drogen vollpumpen wollten, bis sie gehorchten. Gehorsam. Ja, Herr Doktor. Nein, Herr Doktor. Meinen Sie wirklich? Natürlich, das nehme ich mir zu Herzen. Mund auf. Tabletten rein. Hübsche kleine rosa Tabletten in einer weißen Pappschachtel. Schlucken. Lächeln. Vielen Dank, Herr Doktor. Jetzt geht’s mir schon viel besser.
    Sobald ich das mal rausgefunden hatte – was ungefähr zu dem Zeitpunkt war, als es mir sowieso schon wieder besser ging –, habe ich in diesen Sitzungen absichtlich versucht, die Ärzte auf die Palme zu bringen. Sie zu provozieren. Die unverschämtesten Dinge zu sagen, ohne dabei zu weit zu gehen. Sonst hätten sie zu ihren Nadeln oder den gottverdammten Rezeptblöcken gegriffen. Außerdem habe ich mich auf die Justiz berufen, alle Gesetzestexte durchgelesen. Ihre Methoden in Frage gestellt. Ist das, was Sie da vorhaben, in Einklang mit Paragraph soundso des Psychisch-Kranken-Gesetzes? Ich war schlau, belesen, einfallsreich und aufsässig – und noch dazu ein launischer Teenager, immer auf Krawall gebürstet. Mein Dad kommt sowieso nicht gut mit Autoritätspersonen aus, und sobald ich anfing, auf meine Rechte zu pochen, stieg er voll darauf ein und stellte mir seine Anwälte zur Seite, schrieb
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