Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenhauch

Totenhauch

Titel: Totenhauch
Autoren: Amanda Stevens
Vom Netzwerk:
Eingangstor von Oak Grove. Selbst unter den besten Bedingungen hatte dieser Ort etwas an sich, das an den Nerven zerrte. Es war ein alter gotischer Friedhof, düster und üppig bewachsen. Die Anlage war typisch für die Parkfriedhöfe des neunzehnten Jahrhunderts, deren Gestaltung sich am Konzept der englischen Landschaftsgärten orientierte, und irgendwann war das hier sicher einmal ein hübscher und idyllischer Ort gewesen. Doch jetzt, im Licht eines von Wolken verhangenen Mondes, nahmen die bröckelnden Statuen eine gespenstische Patina an, und ich bildete mir ein, dass irgendwo ein kaltes, feuchtes und uraltes Geistwesen lauerte.
    Ich drehte mich um und starrte in die Dunkelheit, suchte nach einer lichtdurchlässigen Gestalt im Nebel, doch gab es keine Geister auf dem Friedhof von Oak Grove. Hier wollten selbst die Toten nicht sein.
    »Suchen Sie jemanden?«
    Ich hielt den Blick abgewandt von Devlin. Die Anziehungskraft, die von ihm ausging, war körperlich spürbar. Es war seltsam, aber ich empfand den nahezu magnetischen Sog noch deutlicher, seit wir den Friedhof betreten hatten.
    »Wie bitte?«
    »Sie drehen sich immer wieder um. Suchen Sie jemanden?«
    »Geister«, erwiderte ich und wartete auf seine Reaktion.
    Doch aus seinem Verhalten war nichts abzulesen. Er griff in die Tasche seiner Jacke und zog eine kleine blaue Tube heraus. »Hier.«
    »Was ist das?«
    »Eukalyptuspaste. Ich kann Ihnen zwar nicht versprechen, dass das böse Geister fernhält, aber gegen den Gestank müsste es helfen.«
    Ich wollte ihm gerade erklären, ich hätte nicht vor, der Leiche so nah zu kommen, dass ich Vorkehrungen treffen müsste, den Gestank zu übertünchen – doch schon jetzt stach mir ein übler Geruch in die Nase, der sich mit dem erdigen Duft des Farns und der wilden Hyazinthen mischte, die auf den Gräbern in der Nähe wuchsen.
    »Na los«, meinte Devlin. »Nehmen Sie schon.«
    Ich nahm die Tube, tat ein wenig von der Paste auf meinen Finger und rieb sie mir dann über die Oberlippe. Die mit Menthol angereicherte Mixtur verdunstete, brannte mir in den Nasenlöchern und zog mir die Kehle zusammen. Hustend legte ich mir die Hand auf die Brust. »Ziemlich stark.«
    »In ungefähr zwei Minuten werden Sie dankbar dafür sein.« Er steckte die Tube wieder ein, ohne dass er sie selbst benutzt hatte. »Sind Sie so weit?«
    »Eigentlich nicht, aber ich nehme an, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Oder?«
    »Sie klingen so fatalistisch. Ihre Rolle hier ist schon recht bald vorbei.«
    Davon ging ich aus.
    Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um, und ich folgte ihm hinein in das Labyrinth aus Grabsteinen und Grabmalen. Die Trittsteine, die den Gehweg markierten, waren mit Moos und Flechten bewachsen und deshalb glitschig. Ich trottete hinter ihm her und achtete bei jedem Schritt darauf, wo ich hintrat. Ich war nicht passend gekleidet für den Friedhof. Meine Schuhewaren schon ganz lehmverschmiert, und ich spürte das Brennen der winzigen Nesseln, die mich in die nackten Beine zwickten.
    Ich hörte Stimmengewirr, das immer lauter wurde, und sah die Lichtkegel von Taschenlampen, die sich entlang der Gehwege bewegten. Die Szenerie war unheimlich und unwirklich und erinnerte mich an eine Zeit, als Tote in der Nacht beigesetzt wurden, im Schein des Mondes und der Laterne des Totengräbers.
    Ein Stück vor uns hatte sich eine kleine Gruppe von Männern in Uniform und Zivil um das versammelt, wovon ich annahm, dass es das aufgefundene Opfer war. Die Sicht war mir fast ganz versperrt, doch ich prägte mir die Form des Grabsteins ein und sah mir die Grabmale darum herum an, damit ich später die genaue Stelle, an der sich das Grab befand, auf meiner Karte wiederfinden konnte.
    Einer der Polizeibeamten bewegte sich, und im selben Moment fiel mein Blick auf bleiche Haut und milchig weiße Augen. Eine Welle von Übelkeit überkam mich, und mit einem Schlag war ich schweißgebadet. Mit zitternden Knien wich ich zurück. Von einem Mord zu hören war eine Sache; die schaurigen Folgen mit eigenen Augen zu sehen war etwas ganz anderes.
    Ich hatte den größten Teil meines Lebens auf Friedhöfen verbracht   – in meinen persönlichen Königreichen. Jeder einzelne war eine stille, behütete Welt für sich, in der es das Chaos der Stadt nicht zu geben schien. Heute Nacht hatte die Realität die Tore gestürmt und verheerenden Schaden angerichtet.
    Ich stand da, atmete tief durch und wünschte mir, ich hätte Dr. Ashby gegenüber nie erwähnt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher