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Totenfrau

Totenfrau

Titel: Totenfrau
Autoren: Bernhard Aichner
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behaarte Arme und Beine, Köpfe so schwer, dass sie sie kaum halten konnte, reglose Münder. Kein Lächeln, kein schönes Wort, gar nichts. Nur ihr Vater, der sie antrieb. Unzählige Leichname, Gesichter, Genitalien und Kot, tote Menschen, die vor ihr herumlagen, um die sie sich kümmern musste. Ein zehnjähriges Mädchen mit Plastikhandschuhen. Und wie die Mutter sie zum Essen rief. So als hätte Blum mit Freundinnen im Hof gespielt. Essen ist fertig. Wascht euch die Hände, Papas Lieblingsgericht wartet. So als wäre alles normal, als wäre alles richtig gewesen. Ein ordentlicher Braten für den Vater, ein Unfallopfer für Blum. Hagen, wie er die beladene Gabel in seinen Mund schob. Blum, wie sie an kaputtes Fleisch dachte, an alte, wundgelegene Männer, an Haut wie Papier, an den Urin und das Blut im Nebenraum, das sie nach dem Essen wegwischen musste. Es schmeckt herrlich, Herta, wie immer ein Gedicht. Und wie Blum den Teller von sich schob.
    Seit sie denken kann, waren da Tote. Sie kamen im Leichenwagen, in Transportsärgen, sie kamen direkt aus ihren Betten, in denen sie für immer eingeschlafen waren, sie kamen blutend, verstümmelt, sie kamen mit Herzinfarkten, erstochen, erschlagen, obduziert, sie kamen einfach in Blums Leben, drangen ein in ihre kleine Welt. Niemand fragte sie, ob sie das wollte. Ob sie das konnte. Sie lagen einfach da, tote Menschen auf dem Aluminiumtisch. Angsteinflößend am Anfang, irgendwann aber still und friedlich. Blum freundete sich an mit ihrer Welt, sie begann zu akzeptieren, dass sie keine Wahl hatte, dass sie nirgendwo sonst hinkonnte. Dass sie die Lebenden fürchten musste, nicht die Toten. Es war eine Erkenntnis, die guttat. Mit ihnen allein zu sein. Immer wenn es ging, zog sie sich in den Versorgungsraum zurück. Die Toten wurden irgendwann zu Freunden, sie sprach mit ihnen, Blum war stärker als sie. Sie konnte entscheiden, was mit ihnen passierte. Keiner konnte ihr wehtun, egal, wie schwer und wie groß sie waren, sie bewegten sich nicht mehr. Atmeten nicht, ihre Arme und Beine lagen einfach nur da. Wie Puppen waren sie, große, kalte Puppen, mit denen sie spielte. Sie vertraute sich ihnen an, sagte ihnen alles, immer. Sonst schwieg sie, zu ihren Eltern kein Wort, sie wollte ihre Ruhe, nichts wissen, sie tat einfach, was von ihr verlangt wurde, und zog sich zurück. In ihre Welt. Bis gerade eben.
    Blum. Wie die Sonne brennt. Wie gut es tut, dass sie endlich still sind. Mit ihren Eltern auf dem Segelboot, seit sie denken kann. Die jährlichen drei Wochen auf dem Wasser, das wiederkehrende Blau. Es war immer wie eine Auszeit von der Wirklichkeit, ein Traum. Einfach nur schön. Von Triest nach Jugoslawien, nach Griechenland, in die Türkei, nach Spanien. Wochenlang auf dem Boot, wochenlang war das Leben gut. Darauf freute sie sich. Wenn der Anker nach oben ging und der Wind in die Segel fuhr. Wenn Hagen ihr zeigte, was wichtig war, wie man steuerte, wie man überlebte im Sturm. Blum erinnert sich. An alles, was sie gelernt hat, was sie nicht gelernt hat. Die Inseln, der Wind und die Eltern, die sich sogar zu einem Lachen hinreißen ließen. Weil Urlaub war. Ihre Gesichter, die sonst verschlossen waren, öffneten sich, manchmal hatte Blum sogar das Gefühl, dass da Liebe war, kurz nur, ein kleines Aufflackern. Zwanzig Jahre lang suchte sie danach, wartete darauf, sehnte sich danach, ein ganz normales Mädchen zu sein, eine junge Frau, die mehr kann, als nur Leichen zu versorgen. Sie will endlich leben, endlich Entscheidungen treffen.
    Sie wird sich nicht rühren, egal, was passiert, nicht bewegen. Da ist nur Blum, und die Sonne auf ihrer Haut. Sie ignoriert die Schreie und das Klopfen.
    Zwei schwimmende Körper, verzweifelt. Man sieht sie von oben. Sie versuchen sich festzuhalten, ihre Nägel kratzen immer noch an der Bordwand entlang. Das gute alte Boot, die Leiter, die man nach oben klappen kann, die Leiter, die nicht da ist, wenn man nach ihr schreit. Hagen hat darauf bestanden, alles im Originalzustand zu belassen, keine Umbauten, keine Vorkehrungen für den Ernstfall. Macht euch nicht ins Hemd, nur Idioten vergessen die Leiter oben, sollte mir das je passieren, dann könnt ihr mich absaufen lassen . Wie selbstherrlich er war, wie kleinlaut und hilflos jetzt. Der große Hagen und seine Herta. Kein Weg zurück mehr für die beiden, sie waren einfach hineingesprungen, kopflos, zwei alte Menschen ohne Liebe. Zwei Menschen mit schwachen Herzen, atemlos, panisch. Sie schreien,
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