Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenfrau

Totenfrau

Titel: Totenfrau
Autoren: Bernhard Aichner
Vom Netzwerk:
Selbstverständlich.
    – Du bist verrückt.
    – Nicht mehr als du. War schließlich deine Idee, das Feierabendbier hier drin zu trinken.
    – Es ist unser viertes.
    – Hör auf zu zählen, Blum.
    – Es stört dich tatsächlich nicht, dass hier normalerweise die Verstorbenen liegen?
    – Nein.
    – Ich war viel hier, als ich ein Kind war.
    – Mit den Toten oder ohne sie?
    – Mit.
    – Türe geschlossen oder offen?
    – Geschlossen.
    – Warum?
    – Das war mein Versteck. Hier haben sie mich nicht gesucht, ich war oft stundenlang hier. Habe einfach dagesessen und habe sie beobachtet. Wie sie tot waren.
    – Etwas kalt vielleicht bei geschlossener Tür.
    – Skiunterwäsche, Skianzug, Handschuhe, Mütze.
    – Etwas abgedreht, aber dir glaube ich das.
    – Kannst du auch.
    – Du würdest mich nicht anlügen, stimmt’s?
    – Wie meinst du das?
    – Du bist ehrlich zu mir.
    – Warum sollte ich das nicht sein?
    – Ich kann dir vertrauen?
    – Warum fragst du mich das?
    – Weil ich dich küssen muss.
    – Musst du?
    – Ich kann nicht mehr anders, seit zwei Monaten will ich es tun, eigentlich wollte ich dich schon küssen, als ich dich auf dem Boot gesehen habe. Es tut mir leid, ich muss es wirklich.
    – Du musst mich also küssen? Und dazu musst du mir vertrauen können?
    – Wenn ich dich geküsst habe, werde ich dich heiraten wollen. Da ist es von Vorteil, wenn man sich vertraut, findest du nicht auch?
    – Du kennst mich doch gar nicht.
    – Doch, ich kenne dich.
    – Ich habe als Kind mit Toten gespielt.
    – Und ich habe Katzen in einen Sack gesteckt und ertränkt. Ich habe Feuerwerkskörper in Frösche gesteckt und zugesehen, wie sie zerrissen wurden.
    – Hast du nicht.
    – Doch.
    – Warum?
    – Ich war neugierig.
    – Ich auch.
    – Deshalb muss ich dich küssen.
    – Und ich? Werde ich nicht gefragt?
    – Auf keinen Fall.
    – Warum?
    – Weil du wahrscheinlich Nein sagen würdest.
    – Würde ich das?
    – Ja.
    – Warum bist du dir da so sicher?
    – Weil du seit zwei Monaten Angst davor hast.
    – Habe ich das?
    – Ja.
    – Und jetzt?
    – Nehme ich dir diese Angst.
    Wie schön es war. Wie nah sich ihre Gesichter kamen, ihre Lippen. Wie sie sich trafen, weich, aufgeregt, zitternd. Vertraut und fremd und schön. Mark und Blum im Kühlraum. Wie sie sich küssten, lange und zärtlich.
    Bis heute liegen ihre Münder aufeinander, bis heute ist die Angst nicht zurückgekehrt. Seit acht Jahren berühren sie sich, halten sich. Seit acht Jahren der gemeinsame Morgen, das Bett, in dem sie liegen, das Haus, das sie zum Paradies gemacht haben.
    Eine Jugendstilvilla mitten in Innsbruck, ein großer Garten mit Apfelbäumen, zwei Geschosse. Als Hagen und Herta unter der Erde waren, hat Blum alles Alte aus dem Haus gerissen, das Schlafzimmer ihrer Eltern, die alte Zirbenstube, die Küche, alles. Nichts mehr blieb, nur die alten Holzböden behielt sie, in stundenlanger Arbeit schliff sie sie ab. Sie putzte und malte, Mark half ihr dabei. Er bot sich an, und sie bedankte sich. Wenn du sonst nichts Besseres zu tun hast. Wie kann ein Mensch nur so freundlich sein? Mark, du bist meine gute Fee. Hast du eigentlich keine Freundin? Er sagte stirnrunzelnd Nein, und Blum genoss es. Dass er immer wieder zu ihr kam, dass er beschlossen hatte, sich um sie zu kümmern. Dass er sie schön fand und Urlaub für sie nahm. Dass er sogar Arbeitskollegen dazu brachte, mit anzupacken, das halbe Landeskriminalamt half mit, Wände einzureißen und Schutt zu verräumen.
    Das Haus der Blums wurde ausgehöhlt und neu eingerichtet, die Wände wurden bunt und die alten Geister vertrieben. Gemeinsam mit Mark wanderte sie nachts durch das ganze Haus und räucherte aus. Sie gingen von Raum zu Raum, Rauch stieg auf, der Duft von Wacholder, Zimt und Orangenschalen lag in der Luft. Egal, ob Mark daran glaubte oder nicht, er ging neben ihr, er assistierte der Hexe, er bemühte sich, das Böse zu spüren. Sie durchstreiften das Haus vom Keller bis zum Dachboden, jeder Winkel wurde mit positiven Gedanken geflutet, alles, was gewesen war, verschwand. Die Gedanken an Hagen und Herta, an den Alltag mit ihnen, Blum warf sie in den Müll. Für immer. Was übrig blieb, war ein Wohntraum, eine Oase der Ruhe mitten in Innsbruck, ein modernes Bestattungsinstitut im Schatten von Apfelbäumen, geführt von einer jungen Frau, die den Toten und den Trauernden mit Respekt begegnete. Das Unternehmen begann zu blühen. So wie Blum selbst auch.
    Der Kuss im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher