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Totenfrau

Totenfrau

Titel: Totenfrau
Autoren: Bernhard Aichner
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mehr gibt. Dass er sie nie wieder berühren wird, dass seine Finger schweigen werden, seine Hände, sein Mund. Sie weiß es. Tausendmal hat sie es gesehen, das Leben, das einfach nicht mehr da ist. Nur noch ein Körper, Haut, die kalt wird. Es ist vorbei. Für immer. Keine Gespräche mehr, kein Lachen, niemand mehr, der sie beschützt, der auf sie aufpasst. Mark kommt nicht mehr zurück. Nie wieder. Blum weiß es, sie spürt es, fühlt es. Wie es ihr Herz zerreißt, wie alles in ihr zerschnitten wird. Wie sie immer weiter schreit. Weil der Schmerz von Sekunde zu Sekunde größer wird.
    Blum und Mark. Mitten auf der Straße. Das Motorrad liegt fünfzig Meter weiter vorne. Blum hört die Kinder, auch sie schreien, sie weinen, Blum sieht, wie Karl und Reza sie festhalten. Sie wollen zu ihrem Vater, sie wollen zu Blum, sie hören ihre Mutter. Wie verzweifelt sie ist. Wie laut der Schmerz ist. Weil alles in ihr nur noch kalt ist und tot, weil es plötzlich dunkel wird. Dunkel und kalt. Alles. Wie leer alles plötzlich ist. Wie Polizisten aus den Wagen steigen und Sanitäter sie von ihm wegziehen. Blum. Wie ihre Finger ihn ein letztes Mal berühren. Mark. Wie er daliegt und die Spritze in ihren Arm kommt. Wie sie sie festhalten, sie zu Boden drücken, wie sie schreit. Bis es plötzlich warm wird. Bis das Licht ausgeht.

4

Sechsunddreißig Stunden hat sie geschlafen. Immer wieder war sie kurz wach geworden, immer wieder hat sie mit Gewalt ihre Augen zugemacht, sie wollte nicht zurück ins Licht, sie wollte die Wirklichkeit nicht, nichts spüren, nichts sehen, nicht akzeptieren, dass es wirklich passiert ist. Nichts davon. Sie wollte nur schlafen, wieder abtauchen in diesen Nebel, der alles erträglich macht. Blum dreht sich hin und her und schläft wieder ein. Nie wieder möchte sie aufwachen. Sie will sich betäuben, tagelang, Wochen. Erst als Uma und Nela zu ihr ins Bett kriechen und sie streicheln, kommt sie zurück.
    Die kleinen Hände auf ihrer Wange, sie spürt die Angst und die Verzweiflung in den kleinen Fingern. Sie hört die tröstenden Worte ihrer Kinder, sie bemühen sich, stark zu sein, sie wollen ihre Mutter zurück, sie wollen, dass sie aufsteht und weiterlebt. Mama, du darfst nicht tot sein. Bitte steh auf, Mama. Du musst die Augen aufmachen, Mama. Bitte. Nela. Sie will in den Arm genommen werden, sie will, dass Blum ihre Tränen auffängt, sie will hören, dass alles gut ist. Die beiden Zauberwesen verstehen nicht, warum ihr Papa nicht mehr da ist. Warum er voller Blut war. Warum sie ihn weggebracht haben. Sie wollen nicht, dass ihre Welt untergeht, dass sie in Gefahr ist, sie wollen Sicherheit, sie wollen sich an ihre Mutter schmiegen, in sie hineinkriechen, sich verstecken in ihr, geborgen sein. Sie wollen so tun, als wäre alles wie immer. Als wäre Mark noch da. Neben ihnen. Atmend, lächelnd. Mama, du musst jetzt aufstehen. Du musst, bitte. Opa hört nicht auf zu weinen. Wir brauchen dich, Mama. Wie die Worte tief in Blum ankommen. Durch die Ohren in ihren Körper, überall hin. In jedem Winkel sind sie, die Hilferufe ihrer Kinder, ihre Angst. Wie diese Worte Blum aus dem Schlaf reißen, ihr plötzlich Kraft geben, sie keinen Augenblick lang mehr stillliegen lassen. Keine Sekunde mehr. Mit aller Kraft richtet sie sich auf und lebt wieder. Ich bin nicht tot , sagt sie.
    – Meine Große, wir schaffen das.
    – Was, Mama? Was schaffen wir?
    – Kommt her zu mir, ihr beiden.
    – Was ist mit Papa, Mama? Ich will, dass er wiederkommt.
    – Papa kommt nicht wieder.
    – Warum nicht?
    – Du weißt doch, Nela, Papa ist ein Prinz.
    – Na und?
    – Prinzen reiten durch die Wälder und kämpfen gegen Drachen.
    – Es gibt keine Drachen, Mama.
    – Doch, Nela. Es gibt Drachen, und dein Papa hat sich aufgemacht, um gegen diese Drachen zu kämpfen. Euer Papa ist ein sehr tapferer Prinz.
    – Warum war da überall Blut, Mama?
    – Das war Drachenblut. Der Drache hat euren Papa verletzt, aber jetzt geht es ihm wieder gut. Jetzt reitet er wieder auf seinem weißen Pferd durch den Wald.
    – Du schwindelst, Mama.
    – Stell es dir einfach vor, Nela, wie er reitet und lächelt.
    – Papa hat kein Pferd, er hat nur ein Motorrad. Und das Motorrad ist kaputt. Es lag auf der Straße. Genau wie Papa.
    – Eurem Papa geht es gut.
    – Papa ist tot.
    – Nein.
    – Doch, Mama. Papa ist jetzt auch eine Leiche.
    – Sei still.
    – Sie haben ihn eben gebracht.
    – Was redest du da?
    – Papa liegt unten im
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