Totenfrau
Kühlschrank.
Blum springt auf. Was Nela sagt, ist wie kaltes Wasser. Eiskaltes Wasser, in das sie fällt, in dem sie beinahe untergeht, in dem ihr Herz fast stillsteht, weil es so wehtut, weil alles plötzlich wieder da ist. Weil die Vorstellung, dass die Kinder ihren toten Vater gesehen haben, wie ein Schlag ist. Das darf nicht sein. Nicht so. Nicht, bevor sie sich um ihn gekümmert hat. Sie muss aufstehen, sie muss klar denken, sie muss sich um alles kümmern, das sinkende Schiff wieder auf Kurs bringen. Wo ist Karl? Reza? Warum tut alles so weh?
Mark. Innerlich schreit sie, weint sie, fleht sie. Komm zurück, bitte. Ich brauche dich. Ich kann das nicht ohne dich. Ich kann nicht. Die Kinder. Wie soll ich das machen ohne dich? Ich weiß es nicht. Bitte, Mark. Schau sie dir an. Wie klein sie sind. Wie sie sich an mich klammern. Ich kann das nicht, Mark. Ohne dich kann ich das nicht. Und trotzdem zieht sie sich an und geht mit den Kindern in die Küche. Trotzdem öffnet sie den Kühlschrank und macht etwas zu essen. Trotzdem tut sie so, als hätte sie wieder alles unter Kontrolle. Egal wie laut es in ihr ist, egal ob alles zusammenbricht in ihr, jedes Stück Haut schreit, jeder Zentimeter Fleisch. Alles tut weh, so als würde sie zerrissen werden, in tausend Stücke, alles von ihr. Sie löst sich auf, jeder Handgriff tut weh, jede Bewegung, alles. Trotzdem streicht sie Butter auf das Toastbrot, sie versucht sogar zu lächeln, den Kindern die Angst zu nehmen. Sie darf jetzt nicht weinen. Wie sehr sie es auch will, sie darf es nicht. Verzweifelt sein. Nie wieder aufstehen, einfach liegen bleiben. Reglos, wie tot.
Nebeneinander sitzen sie am Esstisch. Die Kinder kauen, Blum schaut ihnen zu. Alles wird gut, sagt sie und weiß, dass es nicht wahr ist. Nichts wird wieder gut. Nie wieder. Alles, was gut war, liegt jetzt in einem Kühlraum im Erdgeschoss. Seine Hände, sein Lachen. Er wird den Kindern nie wieder vorlesen, nie wieder mit ihnen balgen, kein Feuer mehr machen mit ihnen im Garten. Keine gemeinsamen Lieder mehr, kein gemeinsames Abendessen, keine Ausflüge, kein Urlaub am Meer. Zusammen auf dem Boot. Wie er den Kindern die Schwimmwesten anlegte, wie glücklich sie waren. Blum sieht sie vor sich. Vor einem Monat an den schönsten Stränden Kroatiens. Sie liefen ins Wasser, er warf sie in die Luft, sie waren so glücklich, nichts bedrohte ihre kleine Welt, Mama und Papa waren da, wenn sie einschliefen, sie saßen draußen an Deck und tranken Wein. Da waren ihre Stimmen, da war ihr Kichern, da war dieses große Vertrauen, dass kein Sturm dieser Welt dieses Boot zum Kentern bringen kann. Da war Liebe. Alles war gut. Nachts am Meer.
– Willst du noch mehr?
– Viel mehr.
– Mein liebes Fräulein, Sie sollten seetüchtig bleiben.
– Ich bin im Urlaub.
– Du bist betrunken, meine Blume.
– Und? Spricht irgendetwas dagegen?
– Nein.
– Eben.
– Es ist zu befürchten, dass du heute noch über mich herfällst.
– Ja, das ist zu befürchten, dauert aber noch ein bisschen. Ungefähr eine halbe Flasche noch.
– Trink schnell, meine Schöne.
– Keine Eile, mein Guter.
– Mach schnell, die Sterne gehen gleich unter.
– Tun sie nicht.
– Doch.
– Dann sollte ich wirklich schneller trinken.
– Wir sollten keine Zeit mehr verlieren.
– Sie fallen einfach vom Himmel oder wie?
– Ja, sie fallen alle ins Meer, einfach so. Von oben nach unten, sie tauchen ein und verschwinden. Einer nach dem anderen. Bis der Himmel leer ist.
– Das will ich sehen.
– Das ist wunderschön, Blum.
– Du bist das.
– Was?
– Wunderschön. Mein Mann. Du.
– Mhmm.
– Alles ist schön hier.
– Hast du nicht irgendwann genug davon? Du segelst seit fünfundzwanzig Jahren in diesem Wasser.
– Das ist Heimat.
– Heimat?
– Hier war ich immer glücklich.
– Bis auf den Tag, als ich dich gefunden habe.
– Wie meinst du das?
– Es war alles sehr traurig damals.
– Müssen wir jetzt darüber reden?
– Tut mir leid. Vergiss es einfach, Blum.
– Wenn das so leicht wäre.
– Ich kann dich küssen.
– Hilft das?
– Unbedingt.
– Das Glück hat eigentlich an diesem Tag erst begonnen. Als du auf das Boot kamst. Alles vorher war nur der Sommer. Es gab nur eine Jahreszeit, nicht vier. Keinen Herbst, keinen Winter, keinen Frühling. Es waren nur ein paar Wochen im Sommer.
– Schön.
– Was?
– Du. Alles, was du sagst. Du bist wie ein Gedicht.
– Ich bin betrunken, vergiss das
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