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Totenfrau

Totenfrau

Titel: Totenfrau
Autoren: Bernhard Aichner
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spürte es, wusste es. Der Mann am Boden war keine Gefahr, ihn einzusperren und zu bestrafen war keine Lösung. Und deshalb nahm er ihn mit nach Hause. Sie nahmen den obdachlosen Bosnier bei sich auf. Vorübergehend. Dass er Jahre bleiben würde, ahnte damals niemand. Blum kochte Hühnersuppe, sie saßen am Küchentisch und hörten ihm zu. Danke , sagte er immer wieder. Danke . Blum zögerte keinen Augenblick. Mark hatte beschlossen, ihm zu helfen, und sie unterstützte ihn dabei. Dass sie zu dieser Zeit nach einem neuen Mitarbeiter suchte, war wahrscheinlich ebenso Schicksal wie der Umstand, dass Reza keine Angst vor dem Tod hatte. Sterben war für ihn lange Zeit Alltag gewesen, die Leichen am Versorgungstisch machten ihm keine Angst. Alles fügte sich, sie bauten die Werkstatt im Souterrain zur Wohnung um, Reza war angekommen.
    Er steht im Garten und putzt den Leichenwagen. Seit sechs Jahren ist er Blum treu ergeben, Reza ist ein Gewinn für alle. Die Kunden, auch Karl und die Kinder mögen ihn. Für Uma und Nela war Reza immer schon da, der Mann mit dem Akzent gehört zur Familie, er wirft sie in die Luft im Sommer, er fängt sie auf und lächelt. Reza. Sorgfältig poliert er den Wagen. Mark steigt auf sein Motorrad, Karl wird die Kinder in den Hort bringen, und Blum wird sich mit Reza endlich um den alten Mann im Kühlraum kümmern.
    Blum ist neugierig, sie hat den Leichnam noch nicht gesehen, sie weiß nur, dass es ein Kopfschuss war, Selbstmord. Ein vierundachtzigjähriger Mann, der nicht mehr leben wollte, der alles mit einer Kugel beendet hat. Reza und ein Kollege vom Fahrdienst haben ihn gestern von der Gerichtsmedizin abgeholt, die Neugier ist groß, Blum will wissen, wie sein Kopf aussieht, wie groß das Loch ist, das die Kugel in den Kopf geschlagen hat. Nur noch ein kleiner Kuss trennt sie von ihrem nächsten Abenteuer, ein Kuss für Mark. Ich liebe dich , sagt er noch. Dann fährt er los.
    Wie Blum ihm nachschaut. Wie alles seinen gewohnten Lauf nimmt, wie der Motor schnurrt, wie ihr Geliebter in den Tag fährt. Zwanzig Meter durch die Einfahrt, Mark blinkt, einmal dreht er sich noch kurz zu Blum und Reza um, dann gibt er Gas. Blum will gerade zurück ins Haus gehen, da hört sie den Knall.
    Sie sieht es, einen Rover, ein großes schwarzes Auto, zuerst kann sie nicht einordnen, was da passiert, sie begreift es nicht. Das Auto. Mark. Wie er einfach verschwindet, wie der große Wagen ihn wegschiebt, ihn umwirft. Wie er fällt. Wie er ihn einfach überrollt. Wie Reza zu laufen beginnt. Blum hinter ihm. Wie Mark unter dem Auto verschwindet, wie laut das Metall ist, wie das Motorrad mitgeschleift wird. Mark. Wie er überrollt wird. Wie eine Puppe dreht sich sein Körper, wie Spielzeug fliegt er durch die Luft. Vor ihren Augen. Wie sie zu ihm hinrennt, wie sie ihm helfen will, wie Reza sie zurückhalten will. Und das Auto, wie es einfach wegfährt. Schnell und für immer. Keine Hilfe, kein Bedauern, kein Entsetzen. Nur ein Wagen von hinten, wie er davonfährt. Ein Unfall, ein kaputtes Motorrad auf dem Asphalt. Ein lebloser Körper. Wie er daliegt, sich nicht rührt. Da ist kein Laut. Da ist nichts mehr. Alles, was laut war, ist jetzt wieder still. Fast ist es so, als wäre nichts geschehen. Ein schöner Tag beginnt, die Sonne scheint. Mark liegt in ihren Armen. Blum schreit.
    Lange und laut. Minutenlang ihre Stimme auf der Straße. Ihr Flehen, ihr Bitten, ihr Mund, wie er auf- und zugeht. Ihr Oberkörper, der vorwippt, zurückwippt, Marks Kopf in ihrem Schoß, überall ist Blut. Überall sind Tränen, sie rinnen heraus aus ihren Augen, über ihre Wangen nach unten, sie fallen tief, sie berühren ihn, sie wollen, dass er sich bewegt, dass er atmet, etwas sagt. Mark. Den Helm hat sie ihm abgenommen, sie hält sein Gesicht in ihren Händen, sie schaut ihn an, schaut in seine leeren Augen, sie brüllt, sie wimmert, immer wieder streicht sie ihm mit der Handfläche über seine Haare. Alles ist voller Blut, alles ist kaputt, nichts mehr ist ganz. Nichts mehr.
    Reza ruft die Rettung an, die Polizei. Wie ein aufgescheuchtes Tier läuft er im Kreis, er weiß nicht, was er tun soll, wie er helfen kann, ausweglos alles. Starrende Nachbarn, entsetzte Gesichter, niemand kann helfen. Keiner kann ihn zurückholen, niemand. Vor fünf Minuten noch war alles gut, vor fünf Minuten war da noch Leben. Jetzt ist da nur noch der Tod. Ganz nah, mit Wucht hat er alles umgerissen, es niedergewalzt. Blum weiß, dass es kein Zurück
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